Italien: Strafprozeßreform mit Tücken

Heute tritt das neue Recht in Kraft / „Angelsächsische Elemente“ und „mehr Öffentlichkeit“ haben vor allem für Politiker und Mafiosi positive Effekte / Künftig können mehr Verfahren unter der Hand geregelt werden / Kein wirkungsvoller  ■  Aus Rom Werner Raith

Es sollte, wie könnte es bei Gesetzesvorhaben anders sein, wieder mal ein „Jahrhundertwerk“ werden. Und, selbstverständlich, wird es demokratische, republikanische, humane Werte geradezu dutzendweise fortschreiben. Beseitigt seien fortan, so die vollmundigen Hymnen, „obrigkeitsstaatliche Relikte“ zuhauf, die „Rechtssicherheit werde auf ein neues Niveau“ gehoben, kurz: Der „Bürger“, speziell der „einfache“, sei in seinen Rechten gestärkt, der Staat aus seiner dominanten Stellung vertrieben. Stichtag für die Eröffnung des juristischen Paradieses ist heute, 24.Oktober 1989. Da tritt der nagelneue „Codice della procedura penale“ in Kraft, das reformierte Strafprozeßrecht, als Ersatz für das 1930 von Mussolinis Faschistenregime erlassene alte Verfahrensrecht. Ein Erfolg also, speziell wenn man die Unkenrufe gehört hatte, die von unausgegorenem Zeug und zu schneller Einführung gefaselt hatten. Sagt jedenfalls der Justizminister.

Ändern wird sich in der Tat nicht Marginales, sondern die Substanz des bisherigen Prozesses. An die Stelle des sogenannten „inquisitorischen“ Verfahrens tritt das „akkusatorische“, im italienischen Jura-Jargon „angelsächsisch“ genannt, obwohl auch viele andere Rechtssysteme, darunter das bundesdeutsche, seit langem diese Form aufweisen. Im „inquisitorischen“ Verfahren haben die staatlichen Ermittlungsorgane eine enorme Übermacht, während die Kompetenz der Verteidigung bei Null liegt. Dem Beschuldigten wird allenfalls die Tatsache des laufenden Verfahrens mitgeteilt, doch der Untersuchungsrichter muß ihn nicht einmal innerhalb einer festgesetzten Zeit vernehmen: Das Ermittlungsverfahren ist geheim, der Verteidiger darf in dieser Phase nur beim Verhör des Beschuldigten, nicht aber der Zeugen dabeisein, die Gesamtakte wird dem Anwalt erst nach Abschluß des Ermittlungsverfahrens zugänglich gemacht. Im Prozeß wiederum stützt sich das Gericht vor allem auf die Ermittlungsergebnisse, so daß selbst deutliche Erschütterungen von Aussagen während der mündlichen Verhandlung wenig am Urteil des Ermittlungsrichters zu ändern vermögen.

Der nun eingeführte „akkusatorische“ Prozeß läßt die Figur des Ermittlungsrichters völlig verschwinden - es existiert nur noch eine Art „Sacherfassungsanwalt“, „Vorermittler“ genannt, der Beweise für und gegen den Angeschuldigten sammelt, diese aber nicht wertet - das geschieht dann ausschließlich während der mündlichen Verhandlung. Bei Vernehmungen auch von Zeugen hat der Angeklagte wie der Anwalt Präsenzrecht, Akteneinsicht muß jederzeit gewährt werden. Eine „Waffengleichheit von Anklage und Verteidigung“ sei damit erreicht, behaupten die Reformer um Justizminister Vassalli und seine Vorgänger Martinazzoli und Rognoni, die acht Jahre über dem neuen Buch gebrütet haben.

Reformiert wird auch die Zuständigkeitsregelung - durch eine neue Definition der territorialen Kompetenzen und des Begriffs „zusammenhängende Tatbestände“ wird es künftig keine Monsterprozesse mehr geben wie die gegen mehr als 450 Mafiosi oder gegen 270 Rotbrigadisten. Um die wahre Flut von Prozessen einzudämmen soll künftig auch das Mauscheln zwischen Staatsanwalt und Verteidigung - „angelsächsisch“ wiederum - erlaubt sein: Bei einem Schuldbekenntnis des Angeklagten und Akzeptieren einer vom Staatsanwalt vorgeschlagenen Strafe kann gar die gesamte Hauptverhandlung entfallen.

Spätestens hier setzen KritikerInnen ein, denn was da eher kleingedruckt steht und wenn jemand darauf zu sprechen kommt, mit den derzeit an die zwei Millionen offenen Verfahren begründet wird, hat gefährliche Haken, die auch mit dem allbekannten Nicht-Funktionieren vieler italienischer Ämter zusammenhängen: Zur Entlastung der Justiz könne die Methode ausgehandelter Urteile ohne öffentliches Verfahren „geradezu System werden“, wie 'il manifesto‘ vermutet, „eine Art Daueramnestie für einen Teil der Delikte, ganz nach dem Ermessen des zuständigen Staatsanwaltes“. Derlei weist der Justizminister zurück. Doch seine Glaubwürdigkeit hat in den letzten Tagen arg gelitten, seit bekannt wurde, daß Vassalli anläßlich des Inkrafttretens des neuen Rechts eine ganze Anzahl öffentlicher Skandale beerdigt hätte, an deren Aufklärung der Öffentlichkeit dringend gelegen ist, etwa für einige durch Spekulation und Ämterschlamperei verursachte Unglücke, Schmiergeldaffären für Minister und rechtsextremistische Attentate, „wenn das der Anfang der Reform ist“, empörte sich 'La Repubblica‘, „dann schon jetzt gute Nacht.“ Der renommierte Strafrechtsexperte Guido Neppi Modona fürchtet, daß „angesichts der Leidenschaft unserer Landsleute zur 'Regelung‘ von Geschäften unter der Hand immer mehr Verfahren ohne Öffentlichkeit lautlos 'erledigt‘ werden“ eine Regelung, die nach Meinung der Bürgerrechtsgesellschaft „Societa civile“ vor allem „bei Anklagen gegen Politiker und hohe Beamte einreißen könnte, und bei den großen, mit der Politik verflochtenen Taten der Mafia.“

Auch die gepriesene „Offenheit“ und „Öffentlichkeit“ des Vorverfahrens hat erhebliche Schwachstellen - „in einem Land“, wie Luciano Violante, Mitglied der Antimafiakommission und stellvertretender Vorsitzender des Justizausschusses, anmerkt, „in dem Zeugen selbst jetzt schon, wo noch alles geheim ablief, bedroht und eingeschüchtert, manche gar ermordet wurden“. So sehr man die Aufhebung der Geheimniskrämerei begrüßen muß - ohne gleichzeitig wirkungsvollen Schutz für Zeugen zu garantieren, kehrt sich zweifellos das Prozeßrecht zum Teil gegen den Bürger.

Die meisten Juristen - staatliche und private - plagt freilich vorderhand anderes: Zunächst wird sich zwar nicht viel ändern, denn für Verbrechen, die vor dem 24.Oktober 1989 begangen wurden, gilt noch das alte Verfahrensmodell, es wird sogar noch einen Großprozeß gegen 168 Rotbrigadisten geben. Doch was dann? Es mangelt an Räumen, wenn die personenreichen Verfahren in Dutzende kleinerer Debatten aufgespalten werden, es mangelt an modernen Einrichtungen in den Gerichten - Computer sind äußerste Rarität, oft funktionieren nicht mal die Telefone - und es hapert vor allem am Personal. Auch wenn Justizminister Vassalli lautstark gleich „mehrere hundert sofort zur Verfügung stehende Kräfte“ verspricht - laut Erhebung des Richterbundes fehlt alleine bei den Richtern und Staatsanwälten gut das Zehnfache davon.

Und die neue Figur des „Vorermittlungsbeamten“ kann Vassalli zunächst überhaupt nicht einsetzen - es gibt noch nicht einmal eine Ausbildung für diese neueste Schöpfung der italienischen Justiz.