Tiefflugchaos über AKW Würgassen

Bürgerinitiative beobachtete den Himmel über dem Altreaktor / „Untätigkeitsklage“ gegen NRW-Wirtschaftsminister Jochimsen / Das AKW ist selbst gegen den Absturz kleiner Flieger  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin (taz) - Wegen „offensichtlicher Verschleppung“ des Stillegungsverfahrens hat die Klägergruppe gegen das Atomkraftwerk im ostwestfälischen Würgassen beim Oberverwaltungsgericht Münster „Untätigkeitsklage“ gegen den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Jochimsen (SPD) eingereicht.

In einer eidesstattlichen Versicherung legte der Sprecher der Gruppe, Peter Eichenseher, gleichzeitig detaillierte Aufzeichnungen, Fotos und Videos vor, die zahlreiche Verstöße gegen das militärische Überflugverbot über den Atommeiler belegen.

Eichenseher hatte sich im Laufe des Sommers tagelang in der Umgebung des Atomkraftwerks aufgehalten und sämtliche Flugbewegungen akribisch dokumentiert. Ergebnis: Gegen den vom Bundesverteidigungsministerium angeordneten „erweiterten Sicherheitsabstand von horizontal 1.500 Metern und vertikal 600 Metern“ wird offensichtlich routinemäßig verstoßen. Eichenseher beobachtete Dutzende von Militärmaschinen, die weit innerhalb der Sicherheitszone über das AKW donnerten.

Direkte Überflüge registrierte der AKW-Gegner beispielsweise am 6., 14. und 15.Juni 1989. Zwischen 9.20 und 15.28 Uhr notierte Eichenseher am 14.Juni insgesamt 22 militärische Tiefflugbewegungen am Himmel über dem AKW. Tags drauf waren es zwischen 14.05 und 16.58 Uhr sogar 29 Flieger, die in Formationen von bis zu fünf Maschinen in der Nähe des Meilers auftauchten.

Absehbaren Einwänden, die Flugabstände schnellfliegender Kampfflugzeuge seien für Laien kaum abschätzbar, begegnet der AKW-Gegner mit präzisen Angaben über seinen Beobachtungsstandort und die Einbeziehung bekannter Abstände markanter Landschaftspunkte.

Eichensehers Beobachtungen sind besonders brisant, weil der Würgassener Altreaktor nicht mal gegen den Absturz kleiner Privatmaschinen vollständig gesichert ist. Das hat der Münchner Professor Jochen Benecke in seinem Gutachten im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung des AKWs durch die nordrhein-westfälische Landesregierung herausgestellt.

Derlei Abstürze, so Benecke in der von der Landesregierung immer noch unter Verschluß gehaltenen Studie, stellten „eine Gefahr für das Brennelementlagerbecken dar, das ungeschützt unter der oberen Hallenkonstruktion liegt“.

Beim Absturz „schnellfliegender Militärmaschinen“ kann, so Benecke, „bei bestimmten Aufprallbedingungen der Sicherheitsbehälter zerstört werden und das Reaktordruckgefäß durch die Einwirkung von Wrackteilen zerbersten“. Beim Eintritt eines solchen Ereignisses könnten „sich Auswirkungen einstellen, die jene der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl noch übertreffen“, heißt es in der Studie.

In ihrer „Untätigkeitsklage“ beklagt die Würgassen -Klägergruppe eine „gefährliche Verzögerungstaktik“ der Düsseldorfer SPD-Landesregierung. In der Tat weigert sich Wirtschaftsminister Jochimsen unter Hinweis auf die nicht abgeschlossene Sicherheitsüberprüfung des Siedewasserreaktors seit über 20 Monaten beständig, über den Stillegungsantrag der Kläger vom 29.Januar 1988 zu entscheiden. Besonders empört ist Eichenseher darüber, daß Jochimsen seine Entscheidungsunlust unter anderem auf ein noch ausstehendes Rechtsgutachten zur „Verantwortung des Staates für den sicheren Betrieb kerntechnischer Anlagen“ stützt. Gleichzeitig habe das Ministerium die Wiederinbetriebnahme des AKW im vergangenen August zugelassen, obwohl die vor über einem Jahr ausgemachten „katastrophalen Brandschutzmängel“ bis heute nicht behoben seien.