Die führende Rolle als Fiktion

Das Machtmonopol der SED ist nicht mehr zu retten  ■ K O M M E N T A R E

Wie alle bisherigen Versuche der SED, die Machtkrise mittels ambivalenter Signale an die Gesellschaft zu bewältigen, wird auch der Inthronisationsakt des neuen Staatsratsvorsitzenden den tiefen Graben zwischen Partei und Gesellschaft weiter vergrößern. Denn gerade der Kontrast zwischen verbalen Reformbekenntnissen und bewährten Entscheidungsmustern bleibt bis auf weiteres ein berechenbares gesellschaftliches Mobilisierungsmoment. Für die auf Emanzipation setzende Bevölkerung symbolisiert die erneute Okkupation des höchsten Staatsamts durch die SED einzig deren Entschlossenheit, die uneingeschränkte Führungsrolle weiter fortzuschreiben. In einer Gesellschaft aber, der die Skepsis gegenüber der verbalen Fassade systematisch eingeimpft wurde, können auch die drastischsten Reformparolen die an der Vergangenheit orientierten Entscheidungen nicht mehr kompensieren. Mit der Doppelfunktion für Krenz, der Machtverquickung zwischen Partei und Staat wie gehabt, hat die SED erneut eine Chance verpaßt, die Ernsthaftigkeit ihrer jüngsten Versprechungen zu dokumentieren.

Die SED lernt - zu langsam. Für eine Partei, die qua Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Geschichte das Erkenntnismonopol über die gesellschaftliche Entwicklung beansprucht, liefert sie in den letzten Wochen eine blamable Vorstellung. Von Antizipation keine Rede. Dabei ist der Gang der Ereignisse lehrbuchhaft strukturiert: Den Knüppeln folgte der Massenprotest; die moderaten Reformangebote wurden von der im Aufbruch befindlichen Gesellschaft allerdings ohne die parteierwünschte Befriedung akzeptiert; die Ablösung Honeckers schrieb die bislang in Unmündigkeit gehaltene Bevölkerung ihrem Engagement zu; auf den erneuten Mobilisierungsschub reagierte die Partei mit Intensivierung der jüngsten Dialogoffensive. Doch auch die scheint die Dynamik der Emanzipation nicht zu brechen. Eher wird der naiv-dreiste Versuch der Partei, sich jetzt als eigentlicher Erfinder des öffentlichen Reformdiskurses zu präsentieren, die Forderung nach Verhandlungen statt Bekundungen nur weiter beflügeln. Zu offenkundig ist die Strategie der SED, die gesellschaftliche Diskussion von der Straße in die Säle und von den Sälen in die vorhandenen Gremien und Institutionen zu kanalisieren.

Die SED ist - trotz der Lernangebote der letzten Wochen weiterhin dabei, Dynamik und Richtung der jüngsten Entwicklung zu verkennen, eine Fehlleistung, die einzig mit dem Erkenntnisinteresse, die führende Rolle am Ende doch zu behaupten, erklärlich ist. Doch gerade diese Fixierung aufs erwünschte Ergebnis verhindert die Einsicht in die aktuellen Notwendigkeiten wie die adäquaten Reaktionen der Partei: Legalisierung der Opposition und Verhandlung über die künftige Entwicklung.

Nur wennn die SED realisiert, daß das uneingeschränkte Machtmonopol nicht mehr über die jüngste Krise zu retten ist, wird sie die Chance wahren, einen Teil ihres gesellschaftlichen Einflusses zu behaupten. Mit der Fiktion der Führungsrolle jedenfalls sind die gesellschaftlichen Partizipationsforderungen nicht mehr abzuweisen.

Matthias Geis