Überleben, damit die Lüge nicht siegt

■ Bucharin wurde nach „Geständnis“ umgebracht, Anna Larina Bucharina aber überlebte und schrieb auf, was war

„In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich 17 Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise 'erkannte‘ mich jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton): 'Und Sie können dies beschreiben?‘ Und ich sagte: 'Ja.‘ Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.“

Anna Achmatowa (aus Programmheft „Stalin“, einer Fundgrube)

Als Anna Larina Bucharina das politische Vermächtnis ihres Mannes 1937, am Vorabend der Verhaftung dieses „wertvollsten

und größten Theoretikers der Partei“ (Lenin), auf seine Bitte hin auswendig lernte, war sie drei Jahre verheiratet und 23 Jahre alt. Als sie 1938 nach Schauprozeß und „Geständnis“ von Bucharins Hinrichtung erfuhr, war Anna Larina 24 und saß zusammen mit 4000 Frauen anderer „Vaterlandsverräter“ im Konzentrationslager in Tomsk. Als sie begann, den mühsam Wort für Wort im Kopf gehaltenen Brief aufzuschreiben, war sie 42 und in Sibirien verbannt. Es war 1956, Chruschtschow hatte Stalin auf dem XX. Parteitag kritisiert, aber es war immer noch zu früh für die Wahrheit, für die die Bucharina überlebte. Chruschtschow, dem sie den Brief 1961 übergab, verspricht die Rehabilitierung Bucharins und unterläßt sie dann doch. „Weil er selber 30 Jahre un

ter Stalin gelebt hat,“ vermutet Anna Larina und auf Bitten v.a. des französischen KP-Führers Maurice Thorez hin, das kommunistische Ansehen nicht zu gefährden. 1988, als Bucharin offiziell posthum rehabilitiert wird, ist Anna Larina 74 und schreibt an Gorbatschow: „Es hat mich große Mühe gekostet, den Text von N.I. Bucharins Brief 'An eine künftige Generation von Parteiführer‘ im Gedächtnis zu bewahren. Ich möchte gern glauben, daß sie die 'künftige Generation‘ sind.“

1989, mit 75 Jahren, sitzt sie, auf Initiative von Wolfgang Eichwede hin, in Bremen in der Akzent-Buchhandlung, die die Hunderte nicht fassen kann, die sie hören wollen. Mischka Slavutskaja liest aus Anna Larinas Memoirenband „Nun bin ich schon weit über zwanzig“, der 1989 im

Steidl-Verlag in der BRD erschien. Mischka, Kommunistin aus Riga, 84 Jahre alt, in erster Ehe verheiratet mit dem KJVD -Vorsitzenden Kurt Müller, der unter Hitler und Stalin und Ulbricht einsaß, verbrachte wie Anna Larina, sippenhaftend, ihr Leben in Gefängnis und Lager. Bis 1962.

Das vorgelesene Kapitel beschreibt ein Verhör Larinas durch Berija, den verantwortlichen Massenhenker nach Jeshow. Berija versucht Larina zum Eingeständnis der „Schuld“ des grade ermordeten Bucharin zu bringen, zumindest zum Stillschweigen über ihn. Das Verhör läuft wie tausend andere und wie das, das augenblicklich „Stalin“ im Goethetheater führt. Das Opfer wird gefoltert durch Schlaflosigkeit, „Geständnisse“ von Freunden,

plötzliche Angebote ersehnter Freundlichkeiten und die Todesdrohung. Anna Larina hält mit einer Keckheit durch, die auch ihr ganzes Buch dokumentiert, kontert Lockungen so kühl wie Drohungen - und willigt am Ende doch ins Schweigen ein. Eine Beugung, die sie am nächsten Tag widerruft, die aber sichtbar macht, wie das funktioniert.

Anna Larina sitzt da, tiefe Falten in die schöne, weiche, bräunliche Haut gegraben, mit Augen, sanfter und eindringlicher von keiner Großmutter zu erträumen und einer intellektuellen Wachheit, um die sie alle EnkelInnen nur beneiden können. Leichten Spott gießt sie über erlitten

Schweres (zur Versammlung der AntifaschistInnen aller Länder in den Straflagern: „Das war Stalins Internationalismus“.)

„Und sie können dies beschreiben?“ Und ich sagte: „Ja.“ Da glitt etwas wie ein Lächeln über das was einmal ihr Gesicht gewesen war. Die Kraft zum Überleben habe sie aus Bucharins Auftrag genommen. Nach der machtvollen Lüge die Wahrheit zu übermitteln. Seit dem Abdruck ihrer Memoiren in einer sowjetischen Zeitschrift bekommt Anna Larina Post: von Menschen, die fragen, ob sie ihre Angehörigen in den Lagern gesehen habe, von anderen Opfern, deren Kindern, deren Enkeln, die ihr danken.

Uta Stolle