Volles Stimmrecht gegen volle Anerkennung der DDR?

■ Interview mit dem Staatsrechtler Professor Christoph Müller, FU Berlin, zu Mompers Forderung nach vollem Stimmrecht für Berliner Bundestagsabgeordnete / Notwendig wären völkerrechtliche Nachverhandlungen mit den Alliierten

taz: Der Regierende Bürgermeister Walter Momper hat für die Berliner Bundestagsabgeordneten in Zukunft volles Stimmrecht gefordert. Welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein?

Christoph Müller: Es handelt sich hier um Vier-Mächte -Vorbehalte, die zum ersten Mal in dem Genehmigungsschreiben von 1949 formuliert sind, wonach Berliner Abgeordnete im Bundestag kein volles Stimmrecht erhalten dürfen. Dieser Vorbehalt ist durch die Vier-Mächte-Vereinbarung bestärkt worden. Die sieht ja vor, daß Berlin kein Land der Bundesrepublik ist - während wir Berlin als Land der Bundesrepublik ansehen. Es müßte eine völkerrechtliche Nachverhandlung geben, die im Mandat der vier Mächte liegen würden, wobei wir hier nur Anregungen geben können.

Welches Interesse könnten die Alliierten an einem solchen Schritt haben?

Kein unmittelbares. Im Gegenteil: Das würde bedeuten, daß sie aus ihrer Verantwortung ein weiteres Stück hinausgedrängt werden - und das liegt nicht in ihrem Eigeninteresse. Nur aufgrund der gesamtpolitischen Veränderungen wäre eine Lockerung ihrer Garantien denkbar.

Ein volles Stimmrecht für Berliner Abgeordnete setzt also das Einverständnis der Alliierten voraus, West-Berlin in Zukunft als zugehörig zur Bundesrepublik zu betrachten?

Die Zustimmung zum vollen Stimmrecht im Bundestag würde bedeuten, daß völkerrechtlich durch Vereinbarungen der vier Alliierten Berlin als volles Bundesland anerkannt werden müßte. Anders kann ich mir das kaum vorstellen. Das ist im Moment aber nicht absehbar, denn die DDR betrachtet West -Berlin weiterhin als Pfahl im Fleisch und hat kein Interesse daran, den Status West-Berlins aufzuwerten. Es sei denn, sie hätte ihrerseits Interessen, die die Basis von Verhandlungen bieten könnten.

Was wäre denn von Seiten der Bundesrepublik anzubieten?

Die DDR hat natürlich starkes Interesse an der vollen völkerrechtlichen Anerkennung. Das Bundesverfassungsgericht hat ja die Theorie entwickelt, daß nach außen hin der Grundlagenvertrag zwar eine völkerrechtliche Vereinbarung ist, aber in der Hauptsache innerdeutsche Beziehungen regelt. So hat das Bundesverfassungsgericht eine volle Anerkennung der DDR umgangen.

Der Regierende Bürgermeister Momper hat seine Forderung nach vollem Stimmrecht der Berliner Bundestagsabgeordneten mit der sich rasant verändernden Situation im Ost-West -Verhältnis begründet. Wie stellen Sie sich denn West-Berlin in fünf Jahren vor?

Schwer zu sagen. Es gab ja schon vor längerer Zeit weitsichtige Leute, die meinten, daß nichts bleibt, wie es ist. Das hat sich in den letzten Jahren, Monaten und auch Tagen bestätigt. Die europäische Dimension - also die Idee vom europäischen Haus, so vage sie auch sein mag - gewinnt für das deutsch-deutsche Verhältnis immer mehr an Gewicht und enthält vielleicht auch Lösungselemente. Zum Beispiel in Richtung auf eine Normalisierung der Beziehung - so, wie wir sie zu anderen Ländern wie der Schweiz oder Österreich haben. Es ist von einigen Leuten schon vor vielen Jahren die Idee entwickelt worden, daß Berlin sich aus seiner Einigelung und Eingrabung in Sicherheitsgarantien dadurch lösen könnte, indem es offensiv neue Funktionen übernimmt als Drehscheibe im Kultur- und Wirtschaftsaustausch mit dem Ostblock. Für Länder wie Polen, Ungarn, die CSSR ist das ja eine Stadt, auf die sie sich orientieren. Wenn ich daran denke, daß es einen Ost-West-Expreß zwischen Paris, Berlin, Warschau und Moskau gibt, dann sind das alte Kommunikationsachsen. Was auf diesen Achsen nun an neuer Kommunikation laufen kann, ist alles noch offen. Aber Möglichkeiten gibt es genug.

Interview: Andrea Böhm