Zum Tanzen gebracht-betr.: "120.000 haben das SED-'Geplapper– satt" und "Brandt einig mit Gorbatschow", taz vom 18.10.89

betr.: „120.000 haben das SED-'Geplapper‘ satt“ und „Brandt einig mit Gorbatschow“,

taz vom 18.10.89

Nach monatelanger Kampagne, als deren Kernstück die Aktion BIG RÜBERHOLE fungiert, ist es der Bundesrepublik Deutschland gelungen, die Verhältnisse in der DDR zum Tanzen zu bringen. Von nun an wird der BRD-Imperialismus dort dauerhaft den Taktstock schwingen wollen - so wie er das in den famosen „Reform„-Ländern Ungarn und Polen ja bereits praktiziert. Daß Gorbatschow zu dieser dreisterfolgreichen Ostpolitik nichts Besseres einfällt, als sich mit Brandt über die Notwendigkeit baldiger DDR-Reformen einig zu erklären, weist den Generalsekretär eher als wohlfeilen Appeasement-Politiker denn als intelligenten Reformer aus.

Er hätte wenigstens auch den eklatanten Mißbrauch diplomatischer Vertretungen, ihr Umfunktionieren zu Ausreiser-Sammelstellen ansprechen müssen, einen Punkt, bei dem überdeutlich wird, wie sehr die BRD bei der ganzen Ausreisebewegung die Fäden in der Hand hält. Darüber hinaus wäre eine Klarstellung wünschenswert gewesen, daß es allein Sache der DDR (und nicht auch noch der Bundesrepublik) ist, wie die DDR die Ausreisemöglichkeiten für ihre BürgerInnen regelt beziehungsweise reglementiert (daß diese Reglementierung schon seit Jahren um einiges lockerer geworden ist, wird übrigens fast nicht wahrgenommen).

Schließlich hätte es auch nicht geschadet, Brandt höflich daran zu erinnern, daß das bundesdeutsche Gesellschaftsmodell, jenes Prinzip der freien Konkurrenz in bezug auf Parteien, Wahlen, Presse usw., keineswegs für die ganze Menschheit verbindlich ist. Denn politische Gewerbefreiheit ist mit Volksherrschaft nicht unbedingt identisch, Liberalismus nicht mit Demokratie. Die SED wäre meines Erachtens gut beraten, diesen Unterschied mit aller Deutlichkeit herauszuarbeiten, auch wenn bzw. gerade weil jede Menge DDRlerInnen auf den bürgerlich verengten Begriff von Demokratie abfahren. Noch wichtiger wäre aber, daß die Partei nicht auf den Gedanken kommt, das bisherige stupide Selbstlob durch eine ebenso stupide Selbstanklage, das „Alles ist gut“ durch „Alles ist schlecht“, das „ausschließlich BRD-Machenschaften“ durch „ausschließlich unsere Fehler“ überkompensieren zu wollen. Die Plötzlichkeit aber, mit der der Genosse Honecker abgelöst wurde, war diesbezüglich genau ein Schritt in die falsche Richtung.

Irmtraud van Haaren, Heidelberg