Verbraucher-Konkursrecht gefordert

Verbraucherverbände stellen in einer neuen Studie eine dramatische Zunahme der Verschuldung von privaten Haushalten fest / Immer mehr sind konkursreif / Gesetz schützt heute vor allem die Kreditgeber / Führend im Kleinkreditwucher: Großbritannien und die BRD  ■  Aus Hamburg Florian Marten

Wenn der Konsumgigant coop vor der Pleite steht, verzichten Bankenkonsortien lieber auf 75 Prozent ihrer Forderungen als in Gefahr zu laufen, daß ein Konkurs ihre Kredite total vernichten könnte. Wenn eine arbeitslose westdeutsche Werftarbeiterfamilie ihre Kleinkreditraten nicht mehr pünktlich zahlt, werden Verzugszinsen fällig, und die Bankforderung wird gar noch aufgestockt.

Die Verschuldung der kleinen Leute in Europa hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschärft, wie eine druckfrische Studie von europäischen Verbraucherschutz -Instituten über „Arbeitslosigkeit und Verbraucherverschuldung in Europa“ zeigt: Allein in der Bundesrepublik stehen die Privathaushalte inzwischen mit über 700 Milliarden Mark in der Kreide - das sind mehr, als die größten Schuldnerländer der Welt an Verbindlichkeiten haben. Mit 28.000 Mark Schulden pro Privathaushalt liegt die BRD noch im europäischen Mittelfeld. Norwegen führt mit 61.000 Mark, gefolgt von Großbritannien (35.000 Mark). Italien (5.700 Mark) und die Schweiz (812 Mark) bilden den Schluß.

Zwar ist der größte Teil der Schulden, nämlich die Hypothekenkredite, durch den Häuslebau bedingt. Für den steilen Anstieg der letzten Jahre sind aber die explodierenden Konsumentenkredite verantwortlich. Überall lag die Expansion der Privatkredite deutlich über den Steigerungsraten des Einkommens. So stieg das Konsumkreditvolumen zwischen 1980 und 1987 in Italien um 500 Prozent, in Großbritannien, Frankreich und Norwegen um rund 200 Prozent, in der BRD, Österreich und der Schweiz um 100 Prozent.

3,4 Prozent aller europäischen Haushalte sind nach Repräsentativerhebungen der Studie schon jetzt überschuldet. Weitere 10 bis 15 Prozent gelten als überschuldungsgefährdet. So stieg zum Beispiel in Großbritannien die Zahl der Haushalte, die ihren Kredit nicht zurückzahlen konnten, innerhalb von sechs Jahren von 1,3 auf 2 Millionen, in der BRD kletterte die Zahl der Mahnverfahren von 4,5 auf 6 Millionen.

Die Ursachen dafür sind weit gefächert: Arbeitslosigkeit, der wachsende Zusammenbruch sozialer Zusammenhänge, der neue Boom bei den Niedriglohngruppen, Sozialabbau (Krankheiten), steigende Kosten (Mieten, Zinsen, kommunale Gebühren), Konsumrausch (Kreditkartenschwemme) und neue Strategien von Kreditinstituten und Konsumunternehmen. Vor allem betroffen ist aber eine Gruppe: die der Marginalisierten, der Modernisierungsverlierer. Der europaweite Trend zur Zweidrittel-Gesellschaft gilt auch auf dem Kreditmarkt.

Das geltende Rechtssystem verschlimmert die Lage der von Überschuldung bedrohten Menschen. Im Gegensatz zum Konkurs und Vergleichsrecht für Unternehmen, wo es eine Fülle von Regelungsmöglichkeiten für einen zweckdienlichen Interessensausgleich zwischen Gläubiger und Schuldner gibt, sind natürliche Personen in der Regel hundertprozentig für die eingegangenen Verpflichtungen haftbar. Zusätzlich verschärfend: Fast überall in Europa gilt die gesetzliche Fiktion, nach der Gläubiger und Schuldner auch beim Konsumkredit gleichberechtigte Partner sind.

Die Realität sieht völlig anders aus. Gezielt setzten die inzwischen zu kompletten Finanzdienstleistern ausgebauten Banken auf eine Deregulierung der Finanzmärkte. Als Prinzip gilt der von David Caplovitz in einer Studie über Kreditprobleme in den USA bereits vor 20 Jahren veröffentlichte Satz: „Arme zahlen mehr“ („The poor pay more“). Genauer: Auf den europäischen Finanzmärkten zahlt ein Drittel der Gesellschaft für finanzielle Dienstleistungen erheblich mehr als die oberen zwei Drittel und erhält zudem eine schlechtere Leistung. Das gilt für Versicherungen, Kontoführungsgebühren, Kredite, aber auch für Spareinlagen, wie der derzeit lächerlich niedrige Spareckzins von 2,5 bis 3 Prozent in der BRD beweist.

Führend im Kleinkreditwucher sind Großbritannien (12,5 bis 500 Prozent Zinsen; einen Wucherparagraphen gibt es nicht) und die BRD (9 bis 25 Prozent). Die Zinsspanne, also der Abstand zwischen dem Einkaufs- und Verkaufspreis des Geldes, erreicht bei der Kleinkreditvergabe abenteuerliche Höhen von mehreren hundert Prozent. Die Studie stellt fest: „Es gibt wohl kaum eine Dienstleistung oder Ware, die einen solch großen Spielraum für eine systematisch diskriminierende Preisgestaltung auf dem Markt anbietet wie der Kredit an Konsumenten.“

Von Wahlfreiheit der Konsumenten kann keine Rede sein. Ausländer, Frauen, Arbeitslose, Straffällige, bereits Überschuldete - sie alle zahlen für die miesesten Kredite die höchsten Zinsen.

Einmal in der Schuldenfalle, schützt das Gesetz vor allem die Kreditgeber. Wird nicht gezahlt, so können die Gläubiger in der Regel Kosten und Verzugszinsen auf das Kapital einfordern und den Vertrag kündigen. Nicht selten kassiert die Kreditgeber bei einem überfällig gewordenen Kleinkredit am Ende mehr, als bei einer vertragsgemäßen Abwicklung zu holen gewesen wäre.

Als effektivste Methode der Schuldeneintreibung aus Sicht der Gläubiger hat sich die der Lohnabtretung bewährt. Eine Falle, wie die Autoren der Studie warnen: Die Lohnabtretung verhindert oft eine Regulierung der Gesamtschulden, weil ein Gläubiger bevorzugt wird. Indem die Lohnabtretung den Weg zu den Gerichten vermeldet, verliert der Schuldner die Chance, daß die vorhandenen Verbraucherschutzregeln auf ihn angewandt werden. Und: Oft erhält der Gläubiger mehr als den pfändbaren Teil des Lohnes.

Unter Federführung des Hamburger Instituts für Finanzdienstleistungen (IFF), das in der BRD mit seinem Kampf gegen die Kleinkreditpraktiken der Bankenwelt bereits für Aufsehen sorgte, trafen sich die Autoren der Studie und die interessierte Fachwelt (neben Sozial- und Finanzexperten aus zehn europäischen Ländern auch viele Behördenvertreter) Ende September in Hamburg zu einem Kongreß, auf dem die Studie vorgestellt und diskutiert wurde.

Wichtiger vielleicht noch: Der Kongreß verabschiedete eine „Europäische Erklärung zu den sozialen Rechten der Verbraucher“. Als Minimalprogramm eines überfälligen Schuldnerschutzes forderte der Kongreß: Eine Art Verbraucherkonkurs, der in einem staatlich überwachten Verfahren, das maximal vier Jahre dauern darf, einen wirtschaftlichen Neubeginn möglich macht Garantien für Wohnraum und lebenswichtige Dienstleistungen (Strom, Wasser, Gas, Telefon usw. dürfen nicht abgeschaltet werden) Einen größeren Schutz des Arbeitseinkommens Eingrenzung von Sippenhaft bei der Kreditaufnahme (derzeit müssen insbesondere Frauen die Kreditanträge ihrer Männer mitunterzeichnen und haften dann auch) Verbot sozialer Diskriminierung (gleicher Preis für die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen) Wucherverbot.

Grundgedanke der Forderungen: Genau wie die Kreditgeber das wirtschaftliche Risiko der kreditnehmenden Unternehmen mittragen, müssen sie gegebenenfalls auch das soziale und wirtschaftliche Risiko bei Konsumentenkrediten in Kauf nehmen.

Über dem Kongreß lag der leichte Optimismus, daß wenigstens auf der Ebene der Verbraucherschutzgesetze und der Rechtspraxis in den kommenden Jahren Verbesserungen erzielt werden könnten. In Verwaltung und Rechtsprechung wächst derzeit europaweit die Tendenz, Verbraucherschutz auszubauen. Nicht ohne handfeste Gründe: Massenelend a la USA würde die sozialen Spannungen in Europa dramatisch verschärfen.

Skepsis herrscht dagegen hinsichtlich der Finanzdienstleistungsunternehmen. Europaweite Konzentration, die Kreditkartenschwemme, eine immer aggressivere Kredit und Konsumwerbung, immer ausgefeiltere Diskriminierungs- und Deregulierungsstrategien - dies alles wird eine private Schuldenlawine mit ihren sozialen Folgen in den nächsten Jahren noch wachsen lassen.