„Die DDR - wie ich sie mir träume“

In Ost-Berlin saßen erstmals Opposition und Partei auf einem Podium / Aufbruchstimmung und verhaltene Skepsis bestimmten die Diskussion / Reformkonzepte für Wirtschaft und Gesellschaft liegen in den Schubladen  ■  Aus Ost-Berlin K.H. Donath

Die Gegend um das Haus der Jungen Talente in der Klosterstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Mitte ist wie jeden Abend auch an diesem schlecht beleuchtet. Nur wenige Flaneure treibt es hierher, wo der großflächige Größenwahn sozialistischer Stadtpolitik in den sechziger Jahren jedes urbane Leben getilgt hat. Um so auffälliger der untersetzte Mann, Anfang dreißig, im blauen Blouson an der Ecke Klosterstraße. Zur Tarnung bleibt er in Griffnähe eines offenen Telefonkastens, die überall in der Hauptstadt rumhängen. Unbeholfen nästelt er an seinem Zigarettenpäckchen.

Seine Aufgabe ist so klar wie überflüssig: observieren. Doch wen oder was, ausgerechnet hier. Macht er sich Gedanken um seine Zukunft. Wird er womöglich bald einer gesellschaftlich sinnvollen Arbeit zugeführt. Wie, wen es so weitergeht, kann man ihn dann zur Rechenschaft ziehen. Hat er nicht schon den Zug verpaßt, sich als Reformer zu profilieren? Die Nutzlosigkeit seiner Tätigkeit muß ihm spätestens an diesem Abend klar werden.

Denn auf der offenen Diskussionsveranstaltung im HdJT sitzen Vertreter der Partei und Opposition gemeinsam auf einem Podium, um über die Zukunft der DDR zu debattieren. Im Saal, auf den Gängen und im Foyer, drängeln sich Unmassen von Menschen, unter ihnen werden auch die Herren der Staatssicherheit sein.

„Die DDR - wie ich sie mir träume“'lautete das Motto. Initiiert hatte die Diskussion Toni Crahl, der auch die Resolution der Unterhaltungskünstler Mitte September mit auf den Weg gebracht hatte. Seitdem ließ sich die öffentliche Diskussion nicht mehr vermeiden.

Auf dem Podium saßen zwölf Diskutanden von „Heym bis Reich“, so Crahl. Stefan Heym, der schon zu den Aufrechten gehörte, als es noch nicht opportun war und Jens Reich vom Neuen Forum, der zur Unterstützung Bärbel Bohleys mitgekommen war. Auch der ehemalige Geheimdienstchef, Markus Wolf, fehlte nicht.

Daneben der Stellvertreter des Ministers für Kultur, Hartmut König, ein Staatssekretär aus demselben Ministerium, Dietmar Keller, der Schriftsteller Christoph Hein, Philipp Dück vom Zentralrat der FDJ und zwei Wissenschaftler aus der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität und Gisela Steinicke, Vorsitzende des Komitees für Unterhaltungskunst.

Die Moderatorin, Gisela Irchhäuser, sonst Kabarettistin, merkte schnell, daß sich über Träume schlecht diskutieren läßt und die Situation in der DDR momentan konkrete Schritte erfordere. In der Notwendigkeit einer Umgestaltung waren sich ohnehin alle Redner einig, ebenso in ihrem Willen, den Sozialismus nicht ad acta zu legen. Das Stichwort zur Diskussion lieferte Heym: Glaubwürdigkeit sei gefragt. Ihn erinnere das Verhalten vieler DDR-Bürger nach dem 11. Oktober an die Situation im Mai 45. Keiner will es gewesen sein. Doch wer soll heute die Fehler überprüfen? Entweder sie lügen jetzt oder sie logen damals.

Auch Wolf klinkte sich darin ein: daß soviele ohne Reue auf den Zug in andere Richtung aufspringen, „kann dem Vertrauen nicht zuträglich sein“. Das Erreichte genüge nicht, die Fehlerkorrektur müsse sofort und grundlegend erfolgen, warnte Wolf mit Blick auf die Ereignisse des 17.Juni 1953. Auch damals überschlug sich das Geschehen, der Destabilisierung folgten tragische Ereignisse. Wolf mahnte indirekt davor, sich nicht mit dem Dialogangebot „ein Wort wie blankgeputztes Blech“ zufriedenzugeben und gleichzeitig Krenz‘ Äußerung „Demonstrationen tragen die Gefahr, anders zu enden, als sie begonnen haben“ im Ohr zu behalten. Als Mäßigung wollte er das nicht verstanden wissen.

In die gleiche Kerbe schlug Hein: „Von den Tagen des Hochgefühls bleibt wenig übrig, wenn man nur moralische Forderungen stelle. Noch ist nichts entschieden, kein Schritt zur Überwindung der stalinistischen Strukturen ist getan.“ Glaubwürdigkeit als Kriterium der Politik reiche ihm nicht aus. Die Instituionen müßten dringend verändert werden. Das Stichwort griffen die Philosophen der Humboldt -Universität auf, beides auch Genossen. Seit Jahren arbeiteten sie an alternativen Sozialismus-Konzepten, die bisher keiner wollte. Auf die Frage aus dem Auditorium nach der zukünftigen Rolle der SED war für sie klar, daß „sich in einem modernen Sozialismus die Führungsrolle der Partei nicht mehr aufrecht erhalten läßt“.

Neue Volksvertretungen müßten geschaffen werden, die Kompetenzen und Arbeitsmethoden der Volkskammer sollten ebenso verändert werden wie das Verbot zur Fraktionsbildung innerhalb der Partei. Leitmotiv einer Erneuerung müßten die „Entstaatlichung der Partei und Entparteiung des Staates sein“. Auch die Opposition außerhalb der Partei müßte im Willensbildungsprozeß ihren legitimen Platz erhalten. Dazu gehöre auch die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die grundlegende Änderung des Wahlrechtssystem und die öffentliche Diskussion aller Gesetzesinitiativen.

Genügend Konzepte, die jetzt offen diskutiert werden sollen, liegen in den Schubladen bereit. Das gleiche gelte für den Wirtschaftsbereich, Analysen über Ineffizienz und Erstarrung gäbe es zuhauf. Wider Erwarten stießen die Ausführungen auf reges Interesse bei den Zuhörern.

Weniger Zuspruch erhielten die Funktionsträger der SED. Sie hatten es schwer, ihre Haltung verständlich zu machen. Den Schwenk wollte man ihnen nicht abnehmen. Glaubwürdigkeit eben. Auf die Frage eines Studenten, ob sie nicht wie sein Direktor, Schuld eingestehen könnten, antworteten sie zurückhaltend. Zwei taten es, und einer bekannte, auch das reiche nicht aus. Es war Staatssekretär Keller, der angekündigt hatte, man werde alle DDR-Künstler, die das Land verlassen haben, auffordern, wieder zurückzukommen. Zum Ende der Veranstaltung hatte der Posten an der Klosterstraße seinen Platz bereits verlassen.