Das Barometer steht auf Sturm

„Ich find's gut, daß er es jetzt gesagt hat“, meinte Walter Riester, Bezirksleiter der IG Metall in Stuttgart. „Da wissen wir wenigstens, worauf wir uns einrichten müssen.“ Riester mag noch nicht recht glauben, daß das, was der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), Hans Peter Stihl, am Dienstag im 'Handelsblatt‘ verkündete, für die Arbeitgeber beschlossene Sache ist. Stihl, als ehemaliger Vorsitzender von Gesamtmetall Baden-Württemberg bis vor gar nicht langer Zeit Riesters unmittelbarer Tarifkontrahent, plädiert im Falle eines Streiks bei der Tarifauseinandersetzung im nächsten Frühjahr für sofortige bundesweite Aussperrung. Grund für diese Strategie: die „realitätsblinde Politik der Arbeitszeitverkürzung“ der Industriegewerkschaft Metall, die auf dem derzeit stattfindenden Berliner Gewerkschaftskongreß voraussichtlich eher bestätigt als korrigiert werde.

Da wird er wohl recht bekommen. Daß die IG Metall im nächsten Jahr die 35-Stunden-Woche, nach 1984 und 1987 im dritten Anlauf, nun endlich durchsetzen will, daran läßt die Gewerkschaft keinen Zweifel. Denn auch für die IGM ist die 35-Stunden-Woche inzwischen eher ein Hemmschuh geworden nicht weil sie für weniger erkämpfenswert gehalten wird als früher, sondern weil sie seit nunmehr zehn Jahren als zentrale Forderung im Mittelpunkt steht und viele andere wichtige Themen nach Einschätzung der IGM-Tarifpolitiker zu kurz gekommen sind. „Die 35-Stunden-Woche muß jetzt vom Tisch“, heißt es. Aber so wie die Dinge sich anbahnen, wird dies ohne Arbeitskampf kaum möglich sein. Steinkühler warnte sogar vor der Gefahr eines „Großkonflikts“, ähnlich dem Arbeitskampf 1984, bei dem das Arbeitgeber-Tabu 40-Stunden -Woche nach sieben Wochen Streik und Aussperrung geknackt werden konnte.

Walter Riester, der schon 1984 in der Verhandlungskommission der IG Metall am Zustandekommen des sogenannten „Leber-Knödels“, des unter Vermittlung des SPD -Altpolitikers Georg Leber ausgehandelten Tarifkompromisses über die 38,5-Stunden-Woche, beteiligt war, will diesen Großkonflikt keineswegs herbeiführen. Streiks und Aussperrungen stellen für die betroffenen Mitglieder immer eine hohe Belastung dar.

Aber wenn, so die Antwort der Bezirksleitung Stuttgart auf Stihls Vorstoß, „trotz aller Bemühungen keine Verhandlungslösung möglich ist“, wird die IGM „ihre Mitglieder befragen, was zu tun ist“. Das Quorum bei der Urabstimmung über Streik liegt bei der IG Metall bei 75 Prozent.

Wie die Stimmung an der Basis ist, darüber sind sich die Spitzenfunktionäre noch nicht völlig sicher. Klar ist, daß in den Betrieben diesmal heftig aufs Geld geschielt wird. Klar ist aber auch, daß die 35-Stunden-Woche nicht noch ein viertes Mal mobilisierungsfähig sein wird. Jetzt oder nie, heißt die Devise. Die Unternehmer haben in den letzten Jahren horrende Gewinne eingefahren, während der Gewerkschaft durch die dreijährige Laufzeit der kombinierten Arbeitszeit- und Lohntarifverträge die Hände gebunden waren. Bei der IG Metall will man diesmal auf jeden Fall erreichen, daß die Abmachungen über Arbeitszeitverkürzung einerseits und Lohn andererseits wieder entkoppelt werden.

Denkbar ist eine stufenweise Arbeitszeitverkürzung mit dem gleichen Tempo wie in den letzten Jahren. Danach wäre die 35 -Stunden-Woche nach etwa drei bis vier Jahren erreicht. Die Lohnverhandlungen aber sollen in Zukunft wieder jährlich stattfinden, um auf die Entwicklung von Inflationsrate, Unternehmergewinnen und Produktivitätssteigerung elastischer reagieren zu können.

Nach dem Säbelrasseln des DIHT-Präsidenten wird sich die IG Metall wohl auf den „schlimmsten aller Fälle“, den Streik, vorbereiten müssen, auch deshalb, weil ein Streik manchmal nur durch eine glaubwürdige Streikdrohung zu vermeiden ist. Die Streikkasse ist, so der seit zwei Jahren amtierende Kassierer im Hauptvorstand, Werner Schreiber, inzwischen wieder so voll wie vor dem Arbeitskampf 1984. Aber die Risiken eines Arbeitskonflikts sind größer geworden, seit die Bundesregierung durch die Veränderung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz die rechtlichen Rahmenbedingungen bei Arbeitskämpfen für die Gewerkschaften drastisch verschlechtert hat. Denn anders als 1984 wird die IG Metall für die von „kalter Aussperrung“ Betroffenen keinerlei Lohnersatzleistungen des Arbeitsamts vor Gericht erstreiten können. Und die IGM hat immer wieder klargestellt, daß sie in diesem Fall kein Streikgeld auszahlen kann und wird. Denn täte sie es, könnten die Unternehmer durch vermeintlich oder tatsächlich streikbedingten Produktionsausfall die Streikkasse der Gewerkschaft in kurzer Zeit geplündert haben. Genau in diese Richtung zielt auch der Vorstoß von Stihl: Denn er hat keine „kalten Aussperrungen“ vorgeschlagen, sondern unmittelbare „Angriffsaussperrungen“. Für die muß die IGM laut Satzung Streikgeld auszahlen.

Der Vorstoß von Stihl sprengt die bisherige Praxis bei Arbeitskämpfen, sprengt auch die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Verhältnismäßigkeit von Streik und Aussperrung. Denn diese geht davon aus, daß bei regionalen Tarifverhandlungen, wie sie im Metallbereich üblich sind, auch der Arbeitskampf regional auf ein bestimmtes Tarifgebiet beschränkt ist. Stihl will diese regionale Beschränkung offensichtlich aufbrechen. Würden die Arbeitgeber seinem Vorschlag folgen, stünde im kommenden Frühjahr, ein halbes Jahr vor der nächsten Bundestagswahl, in der Tat ein gesellschaftlicher „Großkonflikt“ bevor.