Entwicklungsland in Sachen Lust

■ Trotz Perestroika hat sich in den Betten nicht viel verändert / „Liebe steht nicht auf dem Plan“ - eine deutsch-sowjetische Coproduktion über die sexuellen Verhältnisse in der Sowjetunion

Heide Soltau

Geplant war alles ganz anders. Sexualität und Gorbatschow, zwei Renner auf einen Schlag, da würden sich Presse und Publikum die Finger lecken. Nichts dergleichen. Gorbi ist nach wie vor in, doch mit Sex..., da will es nicht hinhauen. Einige Wochen ist das Buch auf dem Markt, den ersehnten Erfolg hat es nicht. Die sexuelle Misere von Lenins Erben scheint hier kaum jemanden zu interessieren.

Adrian Geiges, Redakteur der Jugendzeitschrift 'elan‘, und Tatjana Suworowa, bis vor kurzem Jugendredakteurin bei der sowjetischen Nachrichtenagentur 'Tass‘, haben 112 Moskauer Bürgerinnen und Bürger im Alter zwischen 18 und 28 Jahren nach ihren sexuellen Erfahrungen und Praktiken befragt. Das Ergebnis der teils in mündlicher, teils in schriftlicher Form durchgeführten Interviews ist deprimierend. Die jungen Erwachsenen sind schlecht aufgeklärt und plagen sich mit Vorstellungen wie Onanie mache krank. Petting ist kaum verbreitet, Vergewaltigung in der Ehe keine Seltenheit, Verhütung bei einem Viertel der Befragten unbekannt, und Homosexualität ist strafbar. Es fehlen Kondome und Spiralen, und es fehlen Orte, an denen die Liebe stattfinden könnte, sprich Wohnungen und Zimmer. Zahlreichen Frauen mangelt es an Lust und Befriedigung. Die Abtreibungsrate ist hoch, und, was schlimmer ist, bei siebzig Prozent der Frauen wird der erste Schwangerschaftsabbruch illegal durchgeführt, aus Angst, Verwandte und Freunde könnten davon erfahren. Auch rund siebzig Jahre nach der russischen Revolution ist die sogenannte bürgerliche Doppelmoral noch wirksam. Eine Frau geht unberührt in die Ehe - für viele ist das 1989 noch ein erstrebenswertes Ziel.

Daß in dem Land, das als erstes die Gleichberechtigung der Frau gesetzlich verankerte, Frauen alles andere als gleichberechtigt sind, sei der Vollständigkeit halber noch ergänzt. Im Schnitt verdienen sie ein Drittel weniger als Männer, darüber hinaus gibt es für 55 Prozent der Kinder keinen Kindergarten- oder Krippenplatz, obwohl beide Eltern berufstätig sind. Trostlose Betten

In sowjetischen Betten geht es ziemlich trostlos zu. Die Zahl der „sexuellen Analphabeten“ ist gigantisch, wie es der russische Sexualwissenschaftler Igor Kon drastisch ausdrückte. Aber: wissen wir das nicht längst? Berichten Adrian Geiges und Tatjana Suworowa damit wirklich etwas Neues?

Es hat sich längst herumgesprochen, daß die Emanzipation der Frau im realen Sozialismus lediglich auf dem Papier verwirklicht worden ist. Als Arbeiterinnen in Krankenhäusern, Büros und Fabriken sind sie willkommen, sie dürfen auch klug werden und sich hoch qualifizieren, der Aufstieg in Machtpositionen ist ihnen auch im Osten verwehrt. Es gibt eine einzige Frau im Politbüro, aber keine, die ein Ministerium leitet, und in der Wissenschaft sieht es nicht besser aus: Nur ein Prozent der Professoren und Akademiemitglieder sind Frauen. Was die Frauenfrage angeht, so ist die Sowjetunion ein Entwicklungsland. Damit beantwortet sich auch die Frage nach den Liebesverhältnissen. Wo Frauen auf den Machtetagen nichts zu suchen haben, haben sie auch im Bett nichts zu melden.

Das Buch mag in der Sowjetunion seine Funktion haben und dort, vielleicht, eine ähnlich aufklärerische Wirkung erzielen wie der Kinsey Report ehemals im Westen. Geiges/Suworowa scheinen darauf zu spekulieren. Ob das journalistische Werk, das keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben kann und will, das leisten kann, ist allerdings fraglich. Immerhin ist Moskau nicht repräsentativ für die gesamte Sowjetunion. Wie die sexuellen Verhältnisse auf dem Lande und in den vom Islam geprägten Gebieten aussehen, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich haben die Autoren recht, wenn sie davon ausgehen, daß es dort noch schlimmer ist. Andererseits herrschen auf dem Lande oft weniger repressive Zustände. Keuschheit war stets vor allem ein Ideal der besitzlosen Städter. Wer nichts hat, klammert sich eben an den Körper der Frau. Wirbel in der Sowjetunion?

Die Initiative zu dem Buch ging nicht etwa von sowjetischer Seite aus. Vater des Gedankens ist Adrian Geiges. Ihm war auf mehreren Reisen aufgefallen, daß auch „politisch aufgeschlossene Leute merkwürdig geworden sind, wenn es um persönliche Beziehungen ging und sehr konservative Ansichten geäußert haben“. Dem wollte er nachgehen und suchte sich für seine Recherche eine Co-Autorin. Während er die Männer befragte, übernahm Tatjana Suworowa die Interviews mit Frauen. Das gemeinsame Produkt sollte dann in beiden Ländern erscheinen. In der Bundesrepublik wurde der Wolfgang Krüger Verlag in Frankfurt für das Projekt gewonnen, in der Sowjetunion der Progreß Verlag. Wann das Buch in Moskau herauskommt, ist allerdings noch unsicher. Bis zum kommenden Frühjahr wird es dauern, mindestens, so Adrian Geiges. In der Sowjetunion soll der Report nämlich für Wirbel gesorgt haben. „Sex ist nicht das wichtigste Thema der Perestroika“, gab man der jungen Journalistin zu verstehen - ein Satz, der hier im Westen bereits mehrfach zitiert wurde. Tatjana Suworowa jedenfalls bekam zur Frankfurter Buchmesse kein Visum, so daß ihr westdeutscher Kollege das Werk dort allein präsentieren mußte. Ihm zur Seite stand nur die Übersetzerin Larissa Kan-Delp, die erst seit drei Monaten in der Bundesrepublik lebt und an der Befragung in Moskau teilgenommen hat. Eine Betroffene also, deren Erfahrungen in das Buch eingeflossen sind.

„Liebe steht nicht auf dem Plan“, so der schöne Titel der Gemeinschaftsproduktion, hat mehrere Schwächen. Adrian Geiges ist Deutscher und beherrschte zum Zeitpunkt der Befragung die russische Sprache nur unvollkommen. Bei einem intimen Thema wie der Sexualität dürfte das problematisch sein. Wer wird sich schon ehrlich über seine Onanieerfahrungen äußern, wenn die Antworten erst übersetzt werden müssen? Doch das ist nicht die einzige Erklärung. Vorbild Kollontai

Problematischer erscheinen mir die Prämissen des Projekts. Die beiden AutorInnen beziehen sich wiederholt auf die Schriften Alexandra Kollontais, jener russischen Revolutionärin, die schon vor mehr als einem halben Jahrhundert die freie Liebe predigte und für die Abschaffung der bürgerlichen Doppelmoral eintrat. Alexandra Kollontai hatte nur wenige Jahre Zeit, um für ihre Ideen zu werben, zu kurz, um wirkliche Verhaltensänderungen zu bewirken. Die Ehescheidung wurde unter Stalin wieder erschwert und die Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs eingeschränkt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber nicht alles ist Stalin anzulasten. Es zeigte sich auch, daß ungezählte Männer freiwillig nicht bereit waren, Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Die freie Liebe hatte für Frauen zur Folge, daß viele von ihnen mit den Früchten der Lust alleingelassen wurden. Das war auch ein Grund, warum einige Errungenschaften der Revolution in den zwanziger Jahren wieder zurückgenommen wurden. Im übrigen reagierten die Genossen damals mehrheitlich nicht gerade positiv auf Kollontais Ideen. Nachzulesen ist das in ihren Erzählungen, die ein besserer Spiegel der damaligen Zeit sind als ihre theoretischen Überlegungen. Es gibt also keinen Anlaß, Alexandra Kollontai und die Zeit der Revolution zu idealisieren. Das versucht Günter Amendt, der zu dem Buch von Geiges/Suworowa ein engagiertes Nachwort geschrieben hat. Die Geschichte verlief leider nicht so positiv, wie er sie darstellt.

Veränderungen der Geschlechterverhältnisse sind eine langwierige Sache. Wir müssen nur die eigene Entwicklung der letzten zwanzig Jahre betrachten. Trotz eines Zuwachses an Rechten für die Frauen erweisen sich die Geschlechtsrollen als sehr zäh. Und daß die sexuelle Liberalisierung grundsätzlich zu einer entspannten und befriedigenderen Begegnung der Geschlechter geführt hätte, hat sich nicht bestätigt. Zumindest für die Frauen nicht. Das bedeutet nicht, daß es keinen Fortschritt gegeben hätte, es dauert nur alles viel länger, als wir vor einigen Jahren noch dachten. In der Sowjetunion aber war der ganze Emanzipationszauber der Revolution nach rund zehn Jahren endgültig vorbei.

Verfrüht scheint mir deshalb die Erwartung der AutorInnen, mit Perestroika hätten sich die sexuellen Verhältnisse in der Sowjetunion bereits verändert. Was sind schon vier Jahre? Dennoch hat sich etwas getan. Es gibt zarte Ansätze einer neuen Frauenbewegung, und immerhin will ein Drittel der Befragten seit Gorbatschow einen Bruch mit der alten Moral bemerkt haben. Der befreite Autor

Einer aufgeklärten Öffentlichkeit wird das Buch wenig Neues vermitteln können. In einem Land mit so verschiedenen Kulturen, Religionen und ethnischen Gruppen, in dem dazu jahrzehntelang Meinungs- und Pressefreiheit unterdrückt waren, können die sexuellen Verhältnisse nicht anders als konservativ sein. Wenn ein Drittel der befragten Frauen sich zurück in die Familie sehnt und die meisten von einer Halbtagsarbeit träumen, so ist das nur verständlich. Wo das tägliche Leben so viel Kraft und Organisationstalent erfordert, muß das Leben einer „Nur„-Hausfrau wie ein schöner Traum erscheinen.

Ein Aha-Erlebnis kann das Buch von Geiges/Suworowa nur denen bereiten, die bislang mit einer rosaroten Brille gen Osten blickten. Adrian Geiges ist DKP-Mitglied, „bis jetzt noch“, wie er sagt, „aber wahrscheinlich nicht mehr lange“. Eine realistische Einschätzung, sofern sich die DKP weiter gegen Reformen verschließt und Oppositionelle ausgrenzt. Für ihn hat das Projekt persönliche Bedeutung, „die ganze Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ist natürlich auch meine Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie“. Immerhin habe er sich jahrelang der repressiven Sexualmoral der DKP gebeugt. Wenn Schulung war, galt die Devise: „Liebe steht nicht auf dem Plan.“

Adrian Geiges/Tatjana Suworowa: „Liebe steht nicht auf dem Plan.“ Sexualität in der Sowjetunion heute. Mit einem Nachwort von Günther Amendt. Krüger Verlag, Frankfurt, 29,80 DM.