Wege aus der Verkrampfung

■ Aikido für Blinde in einem Berliner Dojo / Körperbeherrschung durch „harmonische Energie“ verleiht Sicherheit

Berlin (taz) - Dienstag nacht in einer ehemaligen Fabriketage in Berlin-Kreuzberg: eine hellgrüne Matte, vier weißgekleidete Paare und ein Mann im schwarzen Rock. Der Mann klatscht mit den Händen, die Paare verbeugen sich voreinander, alle setzen sich nebeneinander auf die Unterschenkel. Die Neonleuchten surren. Mit ruhiger Stimme erklärt der Mann die nächste Übung. Er winkt eine Schülerin herbei, sie läuft auf seinen ausgestreckten Arm zu, er läßt sich greifen, macht einen Schritt in ihren Rücken, greift ihre Schulter und führt sie mit einer kreisenden Drehbewegung der eigenen Körpermitte unweigerlich zu Boden.

Soweit eine ganz normale Aikido-Übung, Ikkyo genannt. Die Schüler bilden neue Paare, alle haben die Technik in ihren Grundzügen begriffen. Doch nur zwei von ihnen haben wirklich gesehen, was ihr Lehrer vorgemacht hat: die restlichen sechs sind schwer sehbehindert oder völlig blind.

„Ursprünglich gab es die Idee, eine reine blinde Gruppe zu machen. Doch das hätte wiederum Abkapselung und Isolation der Behinderten bedeutet“, begründet Detlev Radüntz die Zusammensetzung dieser ungewöhnlichen Gruppe, die sich seit Mai 1988 in den Räumen der Aikido-Schule am Oranienplatz trifft. Entstanden ist sie auf Anregung einiger Blinder, die durch sehende Freunde von Aikido gehört hatten und sich fit genug für eine neue Herausforderung fühlten. Durch Mundpropaganda waren schnell zehn Leute beisammen, die sich trotz ihrer Blindheit nicht davon abhalten lassen, am Berufsleben teilzunehmen. Wolfgang zum Beispiel arbeitet als Verwaltungsjurist, Reinhard als Klavierstimmer und Anke als Sozialarbeiterin im Bezirksamt Kreuzberg.

Der Exbetriebswirt und seit zwei Jahren vollberufliche Aikidolehrer Detlef Radüntz war schnell begeistert vom Elan der jungen Gruppe. „Am Anfang mußten wir vor allem Gleichgewichts- und Entspannungsübungen machen. Bestimmte Muskelpartien sind bei Blinden verkrampfter, weil sie ständig in Gefahr leben, sich zu stoßen oder zu fallen.“ Nach einer langsamen Anfangsphase macht die Gruppe jetzt erstaunliche Fortschritte. „Manchmal vergesse ich sogar, daß ich Blinde unterrichte, so flüssig gehen die Übungen.“ Sprachliche Entgleisungen - etwa, wenn ein Blinder zum anderen inmitten der Übung sagt: „Das wollen wir ja mal sehen“ - sorgen für zusätzliche Heiterkeit.

Aikido (einfach übersetzt: Der Weg, um die Energie in Harmonie zu bringen) hört für die Blinden jenseits der Matte nicht auf. Anke, die im Urlaub auch schon mal in den Anden auf Trekking-Tour war, wendet das im Kurs Erlernte mit Vorliebe im Alltag an: „Mir macht es plötzlich Spaß, in der U-Bahn zu stehen, mich nicht festzuhalten und die Stöße in der Körpermitte abzufangen. Früher war ich gewohnt, mich überall festzukrallen.“

Bei soviel positiver Auswirkung auf den Lebensalltag stellt sich schnell die Frage nach der breiteren gesellschaftlichen Anwendung. Detlef Radüntz: „Natürlich gäbe es noch viel mehr Blinde, für die Aikido eine gute Lebenshilfe sein könnte. Aber die räumliche Kapazität hier im Dojo ist erschöpft. Ideal wäre ein spezielles Dojo für Blinde, das vom Senat gefördert wird.“ Ob diese Anregung auf fruchtbaren Boden fallen wird? Oder liegt darin bereits wieder eine neue Ausgrenzung? Auf alle Fälle ließe sich hier das Schlagwort von der „Behindertenintegration“ mit Leben füllen. Schließlich ist Blindheit nicht allein eine Sache der Augen.

Milano