„Nicht wie Marmorera enden“

■ Soglio ist die Standortgemeinde für das geplante Pumpspeicherwerk im Val Madris / Hier können 40 Leute über ein 650-Millionen-Franken-Projekt entscheiden

Die Gemeinde Soglio ist ein kleines Dorf mit rund 200 EinwohnerInnen und liegt im Bergell, einem tiefen Tal im südlichen Kanton Graubünden an der Grenze zu Italien. Die weite Aussicht und die Wanderwege haben das Dorf, das malerisch an einen Hang gebettet ist, touristisch recht bekannt gemacht. Gerade dreht ein englisches Team hier einen Film; verhärmte junge Medien-Menschen stolpern mit Kaffeetassen in der Hand über das Kopfsteinpflaster zwischen den Häusern.

Zum Gemeindegebiet gehört auch der hintere Teil des Val Madris, das ebenfalls unter Wasser gesetzt werden soll. Für ein Pumpspeicherwerk soll dort ein Erdstaudamm von 163 Metern Höhe und 100 Millionen Kubikmetern Fassungsvermögen errichtet werden. Etwa eine Million Franken würden die Kraftwerke Hinterrhein (KHR) jährlich in die Kasse der Gemeinde bringen. Viel Geld für das Dorf - doppelt so viel wie der bisherige Haushalt.

Von Soglio aus, das auf 1.090 Metern Höhe liegt, ist das Madris zwar nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt. Aber wer ohne große Umwege in das Tal kommen will, muß erst zum Prasignola-Paß auf 2.700 Meter Höhe hinauf, dann wieder 700 Meter herunter. Von dort oben soll vor den Zeiten der Luftverschmutzung der Mailänder Dom zu sehen gewesen sein. Ein beschwerlicher An- und Abstieg, vor allem mit dem Vieh und so wird das Gemeindeland im hinteren Madris seit mehr als fünfzig Jahren von Pächtern genutzt, die das Tal von der Öffnung her mit Vieh bestoßen.

Armando Ruinelli ist Gemeindepräsident von Soglio und parteilos. Ruinelli ist Bauplaner; sein Büro, ein moderner, mit Holz verkleideter Neubau, liegt zwischen den alten Bruchsteinhäusern und ist mit italienischen Stilmöbeln und einer Menge Computern eingerichtet.

taz: Herr Ruinelli, welche Meinung hat die Gemeinde Soglio zum Madris-Projekt?

Armando Ruinelli: In Soglio hat es darüber noch keine Diskussion gegeben. 1985 ist die KHR zu uns gekommen, aber das einzige, was wir entschieden haben, ist, daß wir mit ihnen verhandeln. Dazu haben wir eine fünfköpfige Kommission gebildet, der ich auch angehöre. Wir gehen davon aus, daß das Projekt kommt, denn sonst bräuchten wir nicht zu verhandeln.

Welche Optionen hat die Kommission?

Es geht um den Verkauf des Landes oder um Realersatz, aber auch um ein Einstandsbrot: Das könnten Landverbesserungen sein oder Straßen oder ein Fonds für die Landwirtschaft. Wir können das Geld nicht nur nehmen - wir müssen dann auch etwas Vernünftiges damit anfangen. Wir haben uns einige Sachen überlegt, aber die teilen wir als erste der Kraftwerksgesellschaft mit.

Zuvor muß aber die Umweltverträglichkeitsprüfung auf dem Tisch liegen. Die provisorische Beurteilung ist negativ ausgefallen. Ich möchte schon, daß die Leute von Soglio erst einmal wissen, was in diesem Bericht steht. Warum sollen wir jetzt darüber diskutieren, ob es um die Frösche im Val Madris schade ist, und in drei Wochen kommt ein Riesenbericht über die Frösche heraus?

Eine Million Franken im Jahr ist viel Geld...

Aber uns geht es darum herauszufinden, ob die Zustimmung für die Gemeinde überhaupt ein guter Schachzug ist. Es könnte auch sein, daß wir vor lauter Geld wie Marmorera enden, wo einfach keine Leute mehr da sind, nur noch ein Haufen Geld.

Wie ist die Bevölkerungsentwicklung in Soglio?

Vor hundert Jahren waren es ungefähr 400 bis 500. Jetzt leben hier etwa 200 Menschen. Diese Zahl ist seit 20 Jahren konstant. Die Einwohnerzahl geht nicht rapide bergab, aber auch nicht rapide bergauf. Es ist ja überall so in den Bergen, daß das Interesse nicht so groß ist, hier zu arbeiten und zu wohnen. Und Landwirtschaft, speziell in Soglio - man muß es wirklich machen wollen. Wir haben vier, die im Prinzip davon leben, und zehn, die es nebenbei betreiben.

Es heißt, Soglio sei nach dem Verdienst pro Kopf im Vergleich zum Kanton eine reiche Gemeinde. Das stimmt, aber es heißt eben auch, daß wir nur sehr wenige Köpfe sind. Wenn es dann eine große Aufgabe gibt, etwa eine neue Fassung für die Trinkwasserversorgung - sie kostet fünf Millionen -, dann wird das auf 200 Köpfe aufgeteilt. Dann ist Soglio schnell eine arme Gemeinde.

Gibt es Leute, die aus Zürich kommen und sich hier ein Chalet für ein paar Sommerwochen zulegen wollen?

Es gibt hier etliche Häuser, die in den letzten 15, 20 Jahren verkauft wurden. Es sind über 30 von insgesamt 150 Bauten. Es gibt zwar seit drei Jahren eine Sperre gegen den Immobilienverkauf an Ausländer, aber (lacht) es gibt offensichtlich auch genügend Schweizer, die das nötige Geld dafür haben. Vor 20 Jahren wurde ein altes Haus, ohne Installationen, für 20.000 Franken verkauft. Das kostet heute 200.000. Bei den Preisen können wir nicht mithalten.

Sie hatten Schwierigkeiten, die Schule in Soglio zu halten, und die Gemeinde mußte zwei Jahre lang die Kosten selbst tragen...

Aber jetzt ist sie für dieses Jahrhundert gesichert: Es gibt wieder genügend Kinder. Außerdem ist die minimale Klassenstärke vom Kanton gesenkt worden, erst waren es sieben, jetzt sind es fünf.

Lassen Sie den Vorwurf gelten, daß den Leuten von Soglio das Val Madris egal ist, weil es so weit weg liegt?

Es gibt hier etliche Leute, denen es nicht egal ist. Ob bei denen die Umwelt oder die energiepolitische Seite eine größere Rolle spielt, weiß ich nicht.

Macht Sie dieses Projekt eigentlich eher unglücklich, oder finden Sie es spannend?

Eher spannend. Es kommt ja selten vor, daß man in einer kleinen Gemeinde mit einem so großen Projekt zu tun hat. Zur Gemeindeversammlung werden bei dieser Frage wohl 40 Leute kommen. Und daß die über dieses Riesenprojekt negativ entscheiden können...

Glauben Sie, daß Sie diese Versammlung noch als Gemeindepräsident erleben werden?

Nein. Wir haben eine Amtszeitbegrenzung, und mein Mandat läuft in eineinhalb Jahren aus.