„Nicht nur Sache der Studenten

Der chinesische Dissident Yan Jiaqi galt als enger Berater des entmachteten KP-Chefs Zhao  ■ I N T E R V I E W

Yan Jiaqi, einer der meistgesuchtesten Chinesen, war zu Besuch in Berlin. Der frühere Leiter der Politikabteilung der Pekinger Akademie der Sozialwissenschaften gehörte zum Beraterstab des im Juni geschaßten KP-Chefs Zhao Ziyang. Die jetzige Führung in Peking wirft ihm vor, im Auftrage Zhaos die Protestbewegung gesteuert zu haben. Yan entzog sich der Verhaftung durch Flucht ins Ausland. Ende September wurde er zum Vorsitzenden der neugegründeten Dissidentenorganisation „Föderation für ein demokratisches China“ gewählt. Dies ist die erste potentielle Oppositionspartei seit Gründung der Volksrepublik China im Oktober 1949. Yan erregte auch als Autor einer kritischen Anthologie über die Kulturrevolution (1969-1979) Aufsehen.

taz: Sind Sie noch Mitglied der KPCh, glauben Sie auch nach dem Massaker mit den Reformkräften in der Partei zusammenarbeiten zu können?

Yan Jiaqi: Ich wurde nach einer Mitteilung der Auslandsausgabe der Volkszeitung am - ich glaube 8.August aus der KP ausgeschlossen. Vor dem Massaker hatte ich die Hoffnung, eine Reform mit der KP sei möglich. Doch nach dem Massaker vom 4. Juni glaube ich das nicht mehr. Deshalb haben wir jetzt in Paris die „Föderation für ein demokratisches China“ gegründet, um für ein Ende der Einparteienherrschaft zu kämpfen. Das ist eines unserer Hauptziele. Demokratie kann es in China nur noch mit einem Mehrparteiensystem geben. Wir schöpfen große Hoffnung aus den Ereignissen in Polen und Ungarn.

Chinesische Politik wird in diesen Tagen nur noch von den Konservativen und Erzkonservativen bestimmt. Heißt das, die Reformer sind im ganzen Land vollständig entmachtet, oder traten sie nur einen taktischen Rückzug an?

Ein beträchtlicher Teil der Reformer ist ins Ausland geflüchtet. Andere wurden aus ihren Positionen abberufen und gestürzt. Auch viele Wirtschaftswissenschaftler sind still geworden. Ein kleiner Teil ist inhaftiert.

Die Konservativen haben Ihnen vorgeworfen, Sie hätten als enger Vertrauter von Zhao die Studentenproteste erst richtig geschürt. Wie intensiv war Ihr Kontakt zu den Demonstraten?

Seit 1986 bin ich Mitglied der Reformkommission. Diese Institution unter Leitung Zhao Ziyangs wurde mit ausdrücklicher Zustimmung Deng Xiaopings gegründet. Ich entwarf nach den Vorstellungen von Deng Xiaoping und Chen Yun (Erzkonservativer Wirtschaftsexperte, der als Gegenspieler von Deng angesehen wird, d.Red.) Pläne für die Reform in China, auch Vorlagen für die politische Reform. Schon im Frühjahr hatte ich einen offenen Brief für Menschenrechte in China unterschrieben. Meine ideelle Unterstützung galt zudem dem Wunsch der Studenten nach Reformen. Doch was sich da aus der Studentenbewegung als Aufstand der ganzen Stadtbevölkerung von Peking entwickelte, ging einzig von den Beteiligten aus. Das verlief bis zuletzt im Geiste von Friedfertigkeit und im Rahmen unserer Verfassung. Ich ging wie viele Intellektuelle auf den Platz (den Tiananmen, d.Red.), sprach mit den Studenten und sprach ihnen zu. Als Autor und Wissenschaftler, der für Chinas Reform gearbeitet hat, bin ich keine Person, die Aufstände organisiert. Außerdem haben auch gar keine Aufstände stattgefunden. Bis zur Niederschlagung war das ein friedlicher Protest der Pekinger Bürger, der von Panzern niedergewalzt wurde.

Sie kennen die Interna der KPCh. Wie weit ist die Korruption unter hohen Kadern verbreitet, wie feudal sind die Entscheidungsstrukturen?

Unsere Vorstellungen von Reform waren dergestalt, daß geplante, staatlich organisierte Wirtschaft mit privatwirtschaftlichen Elemente verwoben werden sollte. Bald zeigte sich jedoch, daß Machtmißbrauch und Korruption unter Kadern als Nebeneffekt der gelockerten Kontrolle in der Wirtschaft auftauchten. Unterschiede in der Preisgebung wurden dafür benutzt, private Profite zu machen. Ich möchte jetzt nicht das Beispiel eines Spitzenkaders heranziehen. Doch kann festgestellt werden, daß eine kleine Gruppe von Politikern sich drauf und dran machte, für ihren privaten Vorteil die Finanzen des Staates zu verschwenden.

Deng ist ein alter Mann. Er hat Krebs. Was, wenn er stirbt?

Li Peng und Yang Shangkun können nicht an die Macht kommen. Das würde nicht nur den Widerstand des Volkes, sondern auch höchster Ebenen in der KPCh hervorrufen. Vielleicht kommen Jiang Zemin (der jetzige KP-Chef) oder Qiao Shi (der Sicherheitschef, d.Red.) an die Macht. Es wird aber vorher noch zu einem sehr, sehr heftigen Machtkampf kommen. In diesen Machtkampf wird sich auch das Militär einschalten. Wenn ich auch nicht glaube, daß in China eine Militärherrschaft entsteht oder Zustände wie unter den Warlords in den 20er Jahren ausbrechen. Wer aber wirklich an die Macht kommt, ist schwer vorherzusehen. Es wird jedenfalls ein äußerst repressives Regime werden, das nur mit Duldung der Militärs überleben kann.

Die entscheidende Frage wird doch wohl sein, wie sich die Bauern verhalten. Sind sie nicht vollkommen abgekoppelt von den Diskussionen und Zielen der Demokratiebewegung?

Es ist richtig, die Demokratiebewegung im Frühjahr wurde vor allem von Studenten, Bewohnern der Städte und von Arbeitern getragen. Doch gerade in den Provinzen und Kreisen ist die Vetternwirtschaft der Partei besonders ausgeprägt. Und die Bauern sind nicht etwa eine Klasse, die keine Freiheit braucht. Erst wenn auch Bauern die Möglichkeiten zu einer freien, demokratischen Wahl haben, können sie ihren Willen auf Veränderung Ausdruck verleihen. Besondere Bedeutung haben für die Bauern aber ökonomische Freiheiten. Da unser Programm die Freiheit des Eigentums garantiert, wird die Demokratiebewegung nicht nur eine der Studenten, Intellektuellen und Arbeiter bleiben.

Sind Ihre Prognosen, daß die KPCh in zwei bis drei Jahren abgewirtschaftet hat, nicht etwas zu optimistisch?

Wir sagen nicht, die ganze Regierung sei in zwei Jahren am Ende, sondern daß die Macht von Li Peng in diesem Zeitraum an ihre Grenzen stößt. Seine Politik, diese Art zu handeln, stößt im ganzen Land auf Widerwillen. Selbst bei Deng Xiaoping stößt er auf Widerwillen. Li Peng wird in den nächsten zwei, drei Jahren entmachtet werden. In den Jahren danach wird sich eine Neubewertung der Ereignisse von 1989 einstellen. Die KPCh wird noch erhebliche Machtkämpfe durchläuften.

Die Tibeter behaupten immer, daß ein grundsätzliches Ziel der Politik der KPCh gewesen sei, ihr Volk auszurotten. Als intimer Kenner des Innenlebens der KP, würden Sie sagen, daß diese Behauptung zutrifft, oder war das ein Nebeneffekt einer mißlungenen Politik?

Da wir auch die Unterdrückung durch die kommunistische Partei erlebt haben, können wir nur die Ungerechtigkeit nachempfinden, die den Tibetern und dem Dalai Lama 1959 (bei der Vertreibung aus Tibet) und 1988 (Demonstrationen der Tibeter wurden blutig niedergeschlagen, d.Red.) widerfuhr. Wir wissen, daß die Religionsfreiheit eine der wichtigsten Grundbedingungen in Tibet ist. Wenn es in Tibet keine Religionsfreiheit gibt, gibt es kein Tibet. Ich glaube auch, daß Tibet nicht nach den gleichen politischen Grundlagen wie andere Teile Chinas regiert werden sollte. Meiner Ansicht nach können die Probleme Tibets aber in einem föderativen System gelöst werden. Wie das aber aussehen soll und wie Taiwan und Hongkong dazugehören, das muß das Volk in Tibet, China, Hongkong und Taiwan entscheiden. Das ist eine Grundforderungen der Föderation für ein demokratisches China.

Interview: Jürgen Kremb