Frankreich: Die Austreibung des Schleiers

Wegen ihrer Kopfbedeckung werden islamische Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen / Streit um religiöse Toleranz treibt LaizistInnen und Kirchenleute auf die Straße / Oberwasser für radikale Vertreter Frankreichs zweitgrößter Religion  ■  Aus Marseille A. Smoltczyk

Verträgt Aufklärung die Verschleierung? Anders gefragt: Darf in einer republikanischen Schule der islamische Tschador getragen werden? An der „Schleier-Affäre“ droht sich in Frankreich ein neuer Religionsstreit zu entzünden, diesmal zwischen (mehr oder weniger) orthodoxen Vertretern des nicht -konfessionellen Schulsystems und (mehr oder weniger) gläubigen Moslems. Da ist zum Beispiel Saida Chellah aus dem Neubauviertel La Rocade bei Avignon, siebzehn Jahre und bis vor kurzem - Berufsschülerin. Seit einer Woche ist sie vom Unterricht ausgeschlossen. Wegen Tschador-Tragens auf dem Schulgelände. „Ich werde den Tschador nicht ablegen, und wenn ich die Ausbildung abbrechen muß. Außerdem, als ich im September aus den Ferien zurückkehrte, hat der Direktor keinen Ton gesagt. Wieso jetzt plötzlich?“ Wieso? Weil Saida Chellah kein Einzelfall ist, und Frankreichs Medien aus dem Kopftuch den Corpus delicti eines Prinzipienstreits gemacht haben.

Begonnen hatte die „Affäre“ im Pariser Vorort Creteil, als die Schwestern Leila und Fatima Achaboun von ihrem Schuldirektor aufgefordert wurden, ihr Kopftuch abzulegen, weil dies dem nicht-konfessionellen Geist des Etablissements zuwiderlaufe. Man einigte sich salomonisch: in der Pause Tschador - im Unterricht nicht. Auch die Presse hatte bereits berichtet, und Religionshüter beider Seiten ergriffen Wort und Initiative. Der französische Innenminister Lionel Jospin erklärte in einem Interview, das „nicht-konfessionelle Prinzip“ müsse garantiert sein, aber man könne trotzdem nicht Schülerinnen vom Unterricht ausschließen. Die Laizisten-Organisationen forderten die Entschleierung schon an der Schwelle zur Schule, die islamischen Vereinigungen verwiesen auf die Koran-Sure XXXIII, die Frauen den Schleier vorschreibe. „Wir leben in einem Land, wo die individuellen Freiheiten gesichert sind. Aber die individuelle Freiheit endet da, wo die Freiheit des anderen nicht respektiert wird“, erinnerte Scheich Haddam, der Leiter der Pariser Moschee. Ähnlich äußerte sich der Großrabbiner von Paris Alain Goldmann: „Wer moslemischen Kindern das Recht auf den Tschador oder jüdischen Kindern die Kippa verwehrt, ist intolerant.“

Aus Montpellier, Lille und Marseille wurden inzwischen ähnliche Fälle gemeldet. In Avignon legten Mitschülerinnen aus Solidarität den Tschador an, als ein Mädchen Schulverbot erhalten sollte. In Creteil hat sich eine Unterstützergruppe für die Schwestern Achaboun gebildet, die wieder verschleiert zum Unterricht erschienen waren. Anwalt der Gruppe: der Barbie-Verteidiger Jacques Verges. Der Pariser Kardinal Lustiger hat sich ebenfalls zu Wort gemeldet. Er vermutet, daß der Tschador für die jungen Mädchen eine Möglichkeit sei, gegen Schule und französisches Establishment zu protestieren: „Das Tragen des Schleiers hat vielleicht nur eine oppositionelle Bedeutung, ein wenig wie die Rasta-Frisur.“ Das mag so sein, nur hätte die Schleier -Affäre nicht so hohe Wellen geschlagen, wenn sie nicht auch einen sehr alltäglichen Konflikt der französischen Gesellschaft berührte. Banal gesagt: die Integration der zweiten Einwanderer-Generation. Längst ist der Islam zur zweitgrößten Religion im Lande geworden, und jeden Tag muß in den Klassenräumen der Vorstädte der Konflikt ausgetragen werden zwischen einer multikulturellen Realität und dem laizistischen Prinzip der Schulen, mit dem die Verfassungsväter der III. Republik einst die katholischen Schwarzkittel ausgetrieben hatten. Harlem Desir, Präsident von „SOS-Racisme“, hält gerade die öffentlichen Schulen für den geeigneten Ort der Integration und der Emanzipation: „Die Konsequenzen der Schulausschlüsse dürfen nicht unterschätzt werden. Einerseits unterstützt man so den Fanatismus derjenigen, die hinter jedem Immigranten einen Ayatollah sehen. Aber vor allem provoziert sie die islamischen Integristen, die nur davon träumen, ihre Töchter aus der Schule zu holen.“