Im vollen Galopp rückwärts

„Wenn uns die westlichen Länder boykottieren, dann arbeiten wir im Bereich der Wirtschaft eben mit der Sowjetunion zusammen“, hatte der stellvertretende chinesische Ministerpräsident Yao Yilin im Juni verkündet. Das paßte ohnehin gut in das Konzept der Hardliner, die jetzt in Peking das Sagen haben. Denn für die wirtschaftlichen Ursachen, die letztlich zu den Bürgerprotesten in der chinesischen Hauptstadt geführt haben, machten sie nicht ihre verfehlte Politik verantwortlich. Vielmehr sei für soziale Unzufriedenheit, Korruption und Inflation der „bürgerliche Liberalismus“ aus dem westlichen Ausland verantwortlich, den die Reformer um Zhao Ziyang ins Land gelassen haben.

Daß aber Wirtschaftspolitik in der maroden volkschinesischen Ökonomie nicht mit ideologisierter Rhetorik zu machen ist und schon gar nicht gegen den erklärten Willen des Volkes, bestätigt sich dieser Tage. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß Chinas finanzieller und ökonomischer Spielraum nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung enger als je zuvor ge worden ist.

Und die Phrase von Yao Yilin zieht schon deswegen nicht, weil erstens die Sowjetunion selbst nahe am wirtschaftlichen Zusammenbruch steht und zweitens eine Schuldenkrise auf China hereinzustürzen droht, die alles in den Schatten stellt, was das Land in den letzten 40 Jahren erlebt hat. In Bankenkreisen wird vermutet, daß die Auslandsschulden der Pekinger Regierung sich schon in zwei Jahren jenseits von 40 Milliarden US-Dollar bewegen könnten.

Nach der Niederschlagung der Proteste haben sich die Wirtschaftsprobleme nicht gelöst, weil es noch immer die gleichen sind, die vorher bestanden. So verzeichnet Peking im ersten Halbjahr dieses Jahres ein Außenhandelsdefizit von 5,8 Milliarden Dollar. Im ganzen Jahr 1988 waren es nur 7,7 Milliarden gewesen. Und dabei könnte nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) alles noch viel schlimmer werden. Denn nach der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 seien die Erträge aus dem Tourismus drastisch zurückgegangen. Pekingreisende sprechen von Hotels, die nur zu 30 Prozent belegt sind, von leeren Restaurants und Flugzeugen. Tourismus war aber einer der Hauptdevisenbringer gewesen. Ferner gingen Geldüberweisungen von Auslandschinesen in den letzten Monaten drastisch zurück, heißt es in der Studie weiter.

Der chinesischen Regierung fehlt mittlerweile Geld an allen Ecken und Enden. Arbeiter wurden vor zwei Monaten bereits dazu verdonnert, 120 Yuan (60 D-Mark) ihres Gehalts in staatlichen Schuldverschreibungen anzulegen. „Einige gingen mit nur zehn Yuan nach Hause“, erzählt ein deutscher Manager, der gerade aus China zurückgekehrt ist. Auch von den Bauern verlangt die Regierung dieser Tage mehr als nur ein Notopfer. Sie bekommen für ihre Ernte kein Bares mehr schon im zweiten Jahr.

Ein deutscher Unternehmer, der wieder in der Volksrepublik vertreten ist, berichtet davon, daß ihm jetzt Waren zu viel niedrigerem Preis angeboten wurden als noch vor fünf Monaten. Da sich seitdem die Produktionskosten wohl nicht verringert haben, bleibt ihm nur ein Schluß: „China braucht westliche Devisen dringender denn je.“

53 Prozent des Außenhandels entfielen bisher auf westliche Länder. Sie lieferten vor allem die moderne Technologie, die für Chinas weiteren wirtschaftlichen Aufbau wichtig ist. Das DIW schreibt, wenn der Reformprozeß nicht fortgeführt werde, dürfte das die Entwicklung des Außenhandels und der Binnenwirtschaft schwer behindern. China habe die Wahl, sich zu einer ökonomisch schwachen Diktatur zurückzuentwickeln oder einen Kurs zu verfolgen, der auf Wiedererlangung des verspielten politischen Vertrauens nicht nur seiner Bürger, sondern auch der inländischen wie ausländischen Wirtschaft zielt.

Doch darauf besteht derzeit keine Hoffnung. Zahlreiche Beobachter vermuten hinter der seit Juni eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Rolle rückwärts das Konzept des auf stalinistische Planung bedachten Parteikonservativen Chen Yun. Das jedoch käme einem vollen Aufgalopp in die 50er Jahre gleich. Dieser Tage sprechen zahlreiche Zeitungen eine deutliche Sprache. Von Rückkehr zur staatlichen Kontrolle, von verstärkter Planung und einer Betonung der Rolle des Sozialismus in der Wirtschaft ist die Rede.

Politisch drückt sich diese Marschrichtung mit einer landesweiten Kampagne gegen Korruption aus. Immerhin soll die Summe der veruntreuten Gelder sich in einem Jahr etwa auf 100 Millionen D-Mark belaufen. 35 Todesurteile gegen vermeintliche Profiteure wurden in den letzten Tagen gesprochen. Doch es kann, wie in den vergangenen Jahren auch, davon ausgegangen werden, daß es stets nur kleine Angestellte und Parteikader auf mittlerer Ebene treffen wird. Sprößlinge von Spitzenkadern, die in Scheinfirmen zum Wohle ihrer Klans in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten, werden wohl kaum belangt. Aber gerade ihre Bestrafung hatten die Demonstranten in Mai und Juni gefordert. Mit Spannung wird deswegen in Peking auf die erste Sitzung des Zentralkomitees nach der blutigen Niederschlagung der Proteste gewartet. Als Termin wird auf Ende Oktober oder Anfang November spekuliert.

Jürgen Kremb