„Bitte, recht ausgehungert gucken...“

■ Speisung der Armen vor laufenden Kameras / Das Diakonische Werk lud a l l e Obdachlosen Berlins in der Kapernaumkirche zu Tisch / Der Anlaß: 450 Jahre protestantische Kirche / Medienspektakel mit viel Sozialromantik und wenig Botschaft

Jedem Kameramann seinen Obdachlosen - und natürlich auch jedem Fotografen. Je verkommener der Porträtierte aussieht desto besser. Und je voller der Teller mit Bouletten und Kartoffelsalat desto telegener, desto fotogener. „Könnten Sie bitte so Ihre Gabel einen Moment stehen lassen, ja, so ist's sehr schön“, und dann die laufende Kamera 20 Zentimeter vor dem Gesicht des Essenden.

Geladen hatte das Diakonische Werk Berlin, aber nicht in erster Linie Medienvertreter, sondern allen Ernstes alle der geschätzten 12.000 Obdachlosen in Berlin - obwohl nur etwa 500 in die Kapernaumkirche im Wedding hineinpassen, wie schon der Einladung zu entnehmen war. Das Mißverhältnis hätte krasser kaum ausfallen können: Etwa 100 Obdachlose, in der Hauptsache Männer, stehen mindestens ebenso vielen Journalisten, Kameraleuten, Fotografen und Kabelträgern gegenüber; genauer gesagt, erstere sitzen an langen, schäbigen Tischen, letztere rennen unaufhörlich durch die Kirchenhalle, nehmen Beleuchtungsproben, suchen den Traumobdachlosen, am besten eine Frau, weil die ja so selten sind. Auf der einen Seite der Kirche ist ein kaltes Büffet aufgebaut, auch der Suppentopf - stilecht ein Blechkübel fehlt nicht. Und selbst hier entblöden die Medientätigen sich nicht, auch selber zuzugreifen - ob das so gedacht war

-, aber schließlich kennen sie es nicht anders.

Das Anliegen der Veranstaltung, auf die miserable Situation der zunehmenden Zahl von Obdachlosen aufmerksam zu machen und diese einmal im Jahr gemeinsam zu bewirten, tritt zwangsläufig erst einmal in den Hintergrund. Hier wird nach allen Regeln der Kunst Sozialromantik inszeniert, und wo bekommt man die schon so kompakt, so eng auf einem Raum vor die Kamera. Müßig und peinlich zugleich, hier noch als Reporterin Einzelne nach ihrer Geschichte zu befragen, denn jeder hat sie schon erzählt. „Ich erzähle jedem wat anderes“, grinst mich einer an, und Recht hat er, schließlich ist es genau das, was von ihm erwartet wird.

Schließlich, nach der ersten im Programm ausdrücklich ausgewiesenen „Stärkung“, die Begrüßung durch den Direktor des Diakonischen Werks, Steinhäuser, der völlig sinnlos, wie er selbst eingesteht, mahnt, daß die Medien nicht die Hauptrolle spielen dürften an diesem Abend.

Aber er weiß auch um die Macht von Publicity und fordert die Obdachlosen auf: „Nutzen Sie die Möglichkeiten, Ihre Probleme auf den Tisch zu bringen, und gewinnen Sie den Medienvertretern möglichst viel Positives ab, denn eine sympathische Darstellung Ihrer Probleme in der Öffentlichkeit nutzt Ihnen vielleicht mehr als die Versprechen der Politiker.“ Und dann erinnert er noch dezent an den Anlaß für die Diakonie, hier als Veranstalter auf den Plan zu treten - wird doch die protestantische Kirche dieser Tage 450 Jahre alt.

Genau das erbost auch Mitarbeiter der Berliner Initiative für Nichtseßhaftenhilfe, die seit vielen Jahren als kleiner Verein Obdachlose betreut und sie einmal im Jahr, allerdings weniger spekatakulär, alle einlädt. Dieses Jahr, so eine Mitarbeiterin, habe zum erstenmal das Diakonische Werk die Veranstaltungsleitung an sich gerissen und das know-how der an der Basis Arbeitenden mißbraucht. Sie hofft, daß nach dem wenig erfreulichen Beginn des Abends sich doch noch gute Stimmung einstellt.

kd