Die Schlange am Busen nähren

■ Ein Reader über „feministische Visionen für die neunziger Jahre“

Ein Satz, kostbar und einfach wie eine Perle: „Geschärft wird der staunende Sinn für das Wunderbare.“ Die Berliner Rundfunkjournalistin und Übersetzerin Gesine Strempel hat damit ihre „Überlebensstrategien“ formuliert. Welch ein kühner Gedanke in frostigen Zeiten.

Zu lesen ist dieser Satz auf Seite 183 in dem bei Frauenoffensive erschienenen Buch Zukunft, gibt's die? Feministische Visionen für die neunziger Jahre. Wer bis dahin kommen will, muß allerdings etliche Tiefs überwinden. Es gibt Autorinnen, die einen einzigen Gedanken auf viele Seiten strecken, Altbekanntes noch einmal aufwärmen oder schlicht Belanglosigkeiten verbreiten.

Doch das Buch enthält Lesenswertes, schon auf den ersten Seiten. Wer es aufschlägt, wird nach dem Vorwort auf die Geschichte „Buttersäure und Schwefeldampf“ stoßen. Die Autorin Doris Stauffer arrangiert darin eine Begegnung zwischen Realität und Utopie, die einander wie Zwillingsschwestern gleichen. Einziger Unterschied: Die Utopie hat ein pfiffiges Gesicht und trägt eine Blindschleiche bei sich, die sie von Zeit zu Zeit an ihren Busen legt. Mit dieser Schlange hat es eine besondere Bewandnis, erzählt sie der erstaunten Realität: Wenn genügend Frauen die Schlange genährt haben, wird sie eines Tages ihre Augen öffnen. Dann wird eine Zeit beginnen, wo jedem Mann, der Unwahrheiten sagt, Frauenfeindliches verbreitet und Zerstörerisches tut, „ein gewaltiger Furz entfahren (wird), der bestialisch nach Schwefel und Buttersäure stinkt“. Eine hübsch verpackte Vision für die neunziger Jahre - und eine Autorin mit Witz!

Seltsamerweise haben die Älteren viel eher den Mut, ihre „feministischen Visionen“ mit Witz zu spikken. Vielleicht müssen Frauen die Vierzig überschritten haben, um in grauen Zeiten auch das Wunderbare zu entdecken. Die ältere Generation unter den Autorinnen jedenfalls ist der jungen haushoch überlegen. Nicht daß große Entwürfe formuliert würden, die gibt es nicht, auch nicht von Frauen. Aber die Texte von Lydia Willkop und Hilke Schlaeger etwa strahlen eine ruhige Beharrlichkeit und Selbstgewißheit aus.

Entlang dem „Sommerstück“ von Christa Wolf reflektiert die Historikerin und Journalistin Lydia Willkop über ihr Altwerden. Hier wie dort steht am Ende des Textes eine Frage. „Habt ihr gesehen, wie der Abendstern immer größer wurde, je länger man ihn ansah?“ heißt es bei Christa Wolf. Gemeint ist der geschärfte Blick, der sich einstellt, einstellen sollte, wenn die Lebensmitte überschritten ist. Dann verändern die Dinge ihren Charakter und zeigen sich von einer anderen Seite.

Es kann kein Zufall sein, daß es sich bei den interessantesten Aufsätzen eher um literarisch-fiktive Texte handelt. Die Soziologin und Publizistin Hilke Schlaeger schreibt einen Brief an die „Utopistin“ Hannah Ahrendt. Es ist der Versuch einer Verständigung. Denn gestritten hätten sie sich, so die erklärte Feministin Hilke Schlaeger, denn Hannah Ahrendt stand der Frauenbewegung stets sehr skeptisch gegenüber. Aller Differenz zum Trotz aber will Hilke Schlaeger die Philosophin beerben. Gegen die Tendenz des zunehmenden Rückzugs vieler Frauen aus den Debatten und politischen Auseinandersetzungen „könnte uns Ihre Fähigkeit, sich ergreifen zu lassen, helfen“, schreibt sie, „gegen die ebenso bequeme Flucht in einfache Lösungen Ihr Anspruch an das Denken; gegen die Hilflosigkeit angesichts immer komplexer werdender Bedrohungen Ihr Vertrauen in begründetes Handeln“.

Da ist er wieder, der Satz über den „staunenden Sinn für das Wunderbare“. Hilke Schlaeger drückt es nur anders aus, wenn sie Mary McCarthy, die Freundin Hannah Ahrendts, zitiert: als „Fähigkeit, sich ergreifen zu lassen“. Diese Fähigkeit scheint uns abhanden zu kommen. Verstrickt in Auseinandersetzungen, in denen um den richtigen Feminismus gekämpft wird, geht der Ideenreichtum vieler Frauen verloren. Statt die Verschiedenheit wahrzunehmen, geht es um richtig und falsch. Die Fähigkeit zu staunen, gepaart mit dem Willen zum Denken und zur Vernunft, könnte helfen, den Boden zu bereiten, auf dem sich Frauen in den neunziger Jahren bewegen.

Ob die Schlange dann eines Tages ihre Augen öffnet, wird sich zeigen.

Heide Soltau

Karen Nölle-Fischer (Hg.): Zukunft, gibt's die? Feministische Visionen für die neunziger Jahre. Frauenoffensive aktuell, München 1989, 200 Seiten, 18 DM