Übersinnliches aus Moskau

■ Die Perestroika hat nicht nur ihre kulturellen und politischen Helden, sondern es gibt auch Gesundbeter der Perestroika

Sofia Margolina

Glückliche Menschen ähneln sich, aber verrückt wird jeder auf seine Weise. Das gilt auch für ganze Gesellschaften, so auch für die derzeitige sowjetische. Gesellschaftlicher Zerfall und geistige Apathie verschaffen sich Ausdruck in lang vorher ausgeprägten kulturellen Stereotypen, die von einer dünnen Gegenwartsschicht nur überlagert sind.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts, als viele Russen sich leidenschaftlich der Idee des westlichen Sozialismus verschrieben hatten, veröffentlichte der nur wenig bekannte Moskauer Bibliothekar Nikolaj Fjodorow seine grundlegende Arbeit Philosophie der gemeinsamen Sache. Darin unterzog er Fortschrittstheorie und Sozialismus einer Kritik und entwarf sein eigenes Projekt zum Umbau der Welt. Der Sozialismus, so Fjodorow, predigte das Böse und die Ungerechtigkeit, da er eine Religion der Zukunft sei. „Glück“ für künftige Generationen sei gleichbedeutend mit Geringschätzung der vorangegangenen Geschlechter. Die ontologische Feindschaft zwischen „gestern“ und „heute“, zwischen „heute“ und „morgen“ sei der Hauptgrund für die Teilung der Welt in Freund und Feind. Um diesen Zustand und die mit ihm verbundenen Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen, müsse man die auseinanderfallende Zeit wieder zusammenfügen und für alle und irgendwann auf der Erde lebenden Menschen gleiche Bedingungen schaffen. Dies sei zu erreichen, wenn alle sich in brüderlicher Anstrengung zur Wiedererweckung verstorbener Generationen vereinigen - und zwar mit Hilfe der modernen Wissenschaft und Technik.

Fjodorows Idee war durchaus nicht nur das skurile Hirngespinst eines schrulligen Philosophen. Sie hat ihre Wurzeln im Ideal der klassen- und ständelosen Gesellschaft und in weit verbreiteten kommunistischen Utopien der Zeit. Sie speiste sich weiter aus Elementen der orthodoxen Ethik, die den Begriff des gesellschaftlichen Lebens ersetzt durch das kollektive Handeln der Gemeinschaft (Sobornost), in der für individuelle Willensäußerungen kein Platz ist.

Höchst modern und zugleich spezifisch russisch an Fjodorows ungewöhnlichem Plan war die Rolle von Wissenschaft und Technik bei der Realisierung zutiefst mystischer Ziele. Als Mensch seiner Zeit glaube Fjodorow an die grenzenlosen Möglichkeiten der Wissenschaft, auch wenn er davon eine ganz eigene Vorstellung hatte. Sie sollte - anders als im Westen

-nicht „Instrument“, nicht „Mittel“ zur Verbesserung der Lebensverhältnisse oder gar der Isolation der Menschen, sondern Teil einer kollektiven Verbrüderung der Menschheit über die Generationen hinweg sein. Natürlich würde es dabei Platzprobleme geben. Ein Schüler Fjodorows, der taubstumme Lehrer aus Kaluga und spätere bedeutende sowjetische Gelehrte Konstantin Ziolkowski, versuchte dieses Problem zu lösen: Er erfindet einen Flugapparat, um die von den Toten wiederauferstandenen Vorfahren auf andere Planeten transportieren zu können. Diese Idee stand am Anfang der modernen Weltraumfahrt und Konstantin Ziolkowski wurde einer seiner Pioniere. In den zwanziger Jahren hat die „gemeinsame Sache“ des mystischen Bolschewiken Fjodorow eine Menge avantgardistischer und phantastischer Projekte nach sich gezogen; Fjodorows Ideen haben zum Beispiel auch Eingang gefunden in die genialen Utopien Andrej Platonows.

In einem Land, in dem die Masse der Bevölkerung in mittelalterlichen Verhältnissen lebte und die Lokomotive als „Eisenpferd“ in die Dichtung einging, trat der Glaube an die Wissenschaft als einer in ihren Möglichkeiten unbegrenzten Sphäre an die Stelle der Wissenschaft selbst. Und die Idee von der „gemeinsamen Sache“ beinhaltete die Ausgrenzung von Individualität und Persönlichkeit. Fjodorows Mystizismus entstammt denselben Wurzeln, aus denen sich auch der Bolschewismus gespeist hat. Der staatliche Plan zur Elektrifizierung (GOELRO) und der Plan für die Wiedererweckung der Vorfahren waren in dem zurückgebliebenen Bauernland gleichermaßen realistisch und phantastisch - für beides gab es keine Aussicht auf unmittelbare Realisierung. Aber als man an ihre Verwirklichung ging, begann „das Ilijtsch-Lämpchen“ dank der Zwangsarbeit der Gulag-Häftlinge zu leuchten, und statt die verstorbenen Generationen wieder zu erwecken, liquidierte man die Lebenden, die auf den Eintritt ins Reich des Kommunismus nur ungenügend vorbereitet waren. Für die interplanetaren Raketen und Raumschiffe, die der taubstumme Ziolkowskij in seiner Holzhütte ausgedacht hatte, fanden sich vorerst keine Passagiere.

Inmitten der heutigen Krise, da die Wissenschaft Ereignisse wie Tschernobyl und viele regionale ökologische Probleme zu verantworten hat, ist die Autorität der Wissenschaft zusammengebrochen. Das einfache Volk identifiziert den Wissenschaftler, den Arzt, den „Spezialisten“ mit der Bürokratie und verdächtigt sie ohne Grund der Inkompetenz, der Fälschung und Unterdrückung lebenswichtiger Informationen.

In einer Situation, in der niemand weiß, wie es weitergehen und wie die Gesellschaft geheilt werden soll, taucht plötzlich jemand auf, der weiß, wie man in „gemeinsamer Sache“, die Menschheit retten kann - mit dem Projekt einer allumfassenden energetischen Perestroika der Noosphäre.

Jeden Morgen um sechs Uhr fünfzehn - außer sonntags veranstaltet der Moskauer „Extrasens“ Alan Tschumak, früher Journalist, fünfminütige Sitzungen, in denen er seine Energie auf die Bevölkerung der Sowjetunion „überträgt“. Um diese Zeit drängen sich Heilungsuchende jeden Alters und jeder Nationalität vor den Fernsehschirmen und hören, mit geschlossenen Augen, dem schweigenden Tschamak zu. Neben sich stellen sie eine Flasche mit Wasser oder einen Behälter mit Salbe. Während der Fernsehübertragung werden diese „aufgeladen“ und können dann die Blutzirkulation in den entsprechenden Organen oder Körperpartien in Bewegung bringen. Jeder Tag der Woche ist der Behandlung eines andren Körperteils gewidmet: am Dienstag geht es um die Blutzirkulation, am Donnerstag um die Wirbelsäule und die motorischen Funktionen und so weiter.

Der Name Tschumaks ist von Legenden umwoben. Unheilbar Kranke berichten vor einer plötzlichen Heilung nach seinen Sendungen, gerade Operierte berichten vom Abbruch der Schmerzen, Gelähmte, die vor dem Fernseher gelegen haben, erheben sich. In keinem Moskauer Haushalt kommt man um das Thema der Telemagie herum - der eine redet davon ironisch, ohne seine Unsicherheit ganz verbergen zu können, der andere erzählt ganz ernsthaft und voller Begeisterung davon. Von Wunderheilern, die durch „kontaktlose Massage“, also ohne die Hände aufzulegen, heilen, haben die meisten schon gehört.

Die fantastischsten Geschichten hat man sich von der hellseherischen Dschuna erzählt, die zum Fernsehstar geworden ist, indem sie einen Kurs „kontaktloser Massage“ durchführt. Doch eine Dschuna kann sich nicht jeder leisten, während zu Tschumak jeder kommen kann. Das Gesundheitsministerium hat, so erzählt man sich, versucht, die „pseudowissenschaftlichen“ Fernsehsendungen zu diskreditieren und zu verbieten: angeblich auf Bitten von empörten Zuschauern hin. Doch das Fernsehen wurde mit Bergen von Protesttelegrammen eingedeckt, in denen die Fortführung der Sendung gefordert wurde. Ein ganz Scharfzüngiger bemerkte, daß es fast zu einem Generalstreik der Kranken und Verrückten gekommen sein soll. Jedenfalls sind nach kurzer Unterbrechung die Sendungen wieder aufgenommen worden, und Tschumak hat im Fernsehen und in Zeitungsinterviews, in denen er seine fantastischen Pläne zu einer „energetischen“ Perestroika größten Maßstabs ausgebreitet hat, seine Möglichkeiten demonstriert.

Bisher hatten es die Meister des Übersinnlichen, die „Extrasense“, unterlassen, ihr Publikum in ihre Geheimnisse einzuweihen. Sie hatten es lediglich darauf angelegt, sich von Wissenschaftlern paraenergetische und parapsychische Wirkungen auf den Organismus des Menschen bestätigen zu lassen. Es kam ihnen darauf an, zu beweisen, daß sie keine Illusionisten und Mystifikatoren sind. Aber beweisen konnte man dies nur dann, wenn die Wirkungen in physischen Parametern meß- und beschreibbar wurden. Noch heute denke ich daran, wie Dschuna die Radioaktivität des Inhalts von zugeschweißten Behältern bestimmt hat, wie sie die Körper -Temperatur ansteigen und Operationsnähte vernarben ließ. Das stammt alles noch aus der Zeit vor Glasnost und damals gab es nur wenige Aufsätze zu diesem Thema, die zudem fast alle in einem kompromittierenden oder im besten Falle ironischen Ton geschrieben waren. Jetzt aber ist die Epoche angebrochen, in der alles, was geheimnisvoll war, offen ausgebreitet wird.

Eine dieser „Offenbarungen“ ist nicht die Macht der „Extrasense“, sondern die vollständige Ohnmacht der sowjetischen Medizin. Der psychische Zustand der Menschen, verschärft durch die soziale Instabilität, Alkoholismus, Nationalitätenkonflikte und furchtbare Naturkatastrophen, ist zu einem Faktor geworden, der der Überwindung der Krise im Wege steht. Die „sowjetische Erschöpfung“ - ein Terminus, der in der Psychiatrie der zwanziger Jahre aufgetaucht war, um die neurophysische Erschöpfung des chronisch überforderten Sowjetpersonals in der Aufbauzeit zu bezeichnen, und der später als Ausdruck der „bürgerlichen“ Psychiatrie zurückgewiesen wurde - dieser Typus von Erschöpfung ist ein ernsthaftes Hindernis für die zügige und intensive Umsetzung des Perestroika-Programms geworden. Die Trägheit, die sich aus Erschöpfung und Angst speist, steht allen neuen Initiativen im Wege - ganz unabhängig davon, ob jemand ideologisch oder politisch für oder gegen die Perestroika ist. Beispiele dafür gibt es genug.

Die Aggressivität des sowjetischen Lehrers hat, wie ein Analytiker des Schulwesens bemerkt hat, etwas von der psychischen Konstitution eines Piloten, der ein feindliches Objekt angreift. Und solche „Piloten“ kann man überall antreffen: im Bus, in der Schlange für Seife und unter den Streikenden im Kusbass. Man ist sich des Fakts einer psychischen Destabilisierung eines sehr großen Teils der Bevölkerung ziemlich bewußt. Alan Tschumak steigt daher zum Volk wie vom Himmel hernieder, um die erschöpften Akkus wieder aufzuladen.

Tschumaks Traum ist, nicht jeden einzelnen, sondern alle zu heilen. Bislang ist er mit den Menschen über den Fernsehschirm verbunden. Doch das reicht ihm nicht! Er will seine Seancen auf Video- und Ton-Kassetten aufzeichnen. Sie werden eine Ladung seiner Energie enthalten. „Ich kann meinen Zustand auf einen Gegenstand übertragen und dort Energie erzeugen, die den Menschen hilft. Auf jeden beliebigen Gegenstand. Das heißt, wenn ich in einen bestimmten Zustand komme und mich ein Photograph aufnimmt, heilt auch meine Photographie. Wirklich, körperlich spürbar.“ In solchen Fällen pflegt der Interviewer nervös zu kichern: „Das gibt's nicht.“ „Sie brauchen nicht zu lachen. Dieser Gegenstand wirkt auch, wenn ich nicht da bin. Ich bin abgereist, habe die Photographie zurückgelassen, sie hängt an der Wand, und im Zimmer liegt ein Kranker. Sie - die Photographie - heilt, wirkt. Dem Kranken geht es besser. Das ist keine Psychotherapie, keine Hypnose, das ist eine vollständig andere Art von Behandlung. Da ist das Mitleid mit jedem Menschen, der zu mir kommt oder meiner Fernsehsendung zuschaut oder das Tonband mit meiner Aufzeichnung benutzt. Sogar über das Radio funktioniert es. Sagen wir, fünf Minuten Ruhe zum Gesundwerden. Und ungeheuer viele Menschen fühlen sich danach besser.“ Das ist ein Zitat, nachzulesen im Interview, das Alan Tschumak der 'Moskovskaja Pravda‘ vom 13.August 1989 gegeben hat.

Wenn man so etwas liest, möchte man sich die Augen reiben und sich in die Hand zwicken. Irgend etwas ausrufen in der Art: „Scharlatan!“, so etwas gibt es nicht. So wie es jener Behinderte, der an einer schweren Polyathritis gelitten hatte, auch getan hat. Er hat eine Fernsehsendung mitgemacht und eine ganze Flasche „geweihten Wassers“ ausgetrunken. Die Schwellungen an den Händen sind verschwunden. Er zeigt die Hände, die er früher nicht hat bewegen können, und sagt: „So etwas gibt's doch gar nicht.“

Tschumak ist in aller Munde. Die Anhänger esoterischer Kulturen und verschiedener Yoga-Richtungen sind böse: Tschumak soll aufhören, seine Informationen an „Nichteingeweihte“ weiterzugeben, und soll seine Beziehungen zur „Stimme“ für sich behalten. Er manipuliere das Bewußtsein. Er inspiriere eine Massenpsychose, er arbeite für die Regierung. Die sowjetischen Gurus, die ihren Jüngern untersagen, die Fernsehsendungen Tschumaks anzuschauen, befürchten offensichtlich Konkurrenz. Sie weisen natürlich empört solch primitive Unterstellung zurück, und wissen, warum er ein schlechter Geist ist: Tschumak hat die aus Tschernobyl nach Moskau ziehenden Wolken zum Stillstand gebracht und sie über Bjelorußland abregnen lassen.

Tschumak macht die Leute nervös. Sein rares Talent und die Tatsache, daß man sich alles so schwer mit Verstandesgründen erklären kann, erst recht. Der Meister selbst bemüht sich übrigens, seine Aktivitäten zu begründen. Er macht sie zu einer Sache gesellschaftlicher Relevanz erster Ordnung. Die Überwindung der Versorgungskrise, die Verbesserung der ökologischen Situation - all das sind wesentliche Teile seines Plans zur Umgestaltung der Ökumene. Die Probleme, über deren Lösung sich die besten Geister den Kopf zerbrechen, sind lösbar. In Lagerhallen und -häusern läßt man, das ist die logische Schlußfolgerung, Kassetten mit dem Programm zur Konservierung von Gemüse abspielen, und die Lebensmittel hören auf, zu verderben. Die ökolgische Aktion erfolgt bei Tschumak nicht unmittelbar - etwas durch Reinigung der Luft -, sondern indem auf dem Wege energetischer Übertragung das Bewußtsein der Menschen verändert wird. Tschumak erklärt das so - Zitat aus seinem Interview: „Die Menschen vor dem Fernseher, die an meinen Seancen teilnehmen, werden nach einer gewissen Zeit selber Generatoren von Energie. Neue energetische Potentiale werden auf der Erde geboren. Und sie sind es, die eine neue Harmonie in die Natur bringen... Unsere psychoemotionalen Ausschüttungen sind vergleichbar den Eruptionen von Vulkanen. Wir stoßen gewaltige Ladungen an Bösem in die Atmosphäre aus. Natürlich gibt es dafür gesellschaftliche Ursachen. Doch es gibt solange keine Lösungen und keine Veränderungen, solange die Nation und das Land sich nicht geistig reinigen. Solange die Menschen nicht verstehen, daß all die Aggressionen, Konflikte und Kämpfe in den Abgrund führen. Solange sie nicht verstehen, daß der Moment der großen Vereinigung gekommen ist, um sich und seine Kindeskinder zu retten. Die Vereinigung der seelischen und geistigen Kräfte. Wenn ich als Individuum schon über Fersehen oder Tonbandaufzeichnungen Millionen Menschen heilen kann, was können dann erst all die Menschen, die sich bewußt geworden sind, daß sie die Kinder dieser Erde sind und sich verbrüdert haben!“

Na also, da haben wir es, das schöne Projekt - und ganz im Geiste der „russischen Idee“.

Auch in Amerika ziehen Propheten und Wunderheiler verschiedenster Konfession umher und predigen - gratis oder für Geld - alle mögliche Lehren. Man hat sich an sie gewöhnt und geht seiner Wege. Doch der staatliche Extrasens Tschumak ist ein ernstzunehmendes ideologisches Unternehmen. Hundert Millionen Zuschauer, die jeden Morgen für fünf Minuten die Augen schließen und eine Flasche mit Wasser vor dem Fernseher postieren - das ist schon eine Sache, über die sich nachzudenken lohnt.