Zweifel und revolutionärer Wandel

■ Der Dresdener Dialog: Hunderttausende kamen zur Diskussion mit SED-Bezirkschef Hans Modrow und Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer / „Historischer Tag“ in der Stadtgeschichte / Zweifel am radikalen Reformwillen: Dem Dialog müssen Taten erst noch folgen

Dresden (taz) - „70 Jahre Sozialismus und 40 Jahre Sozialismus auf deutschem Boden sind den Beweis schuldig geblieben, daß der Sozialismus die differenzierten Lebensbedürfnisse der Menschen befriedigt. Immerhin haben 3,5 Millionen unserem Land den Rücken gekehrt.“ Dr. Tellkamp, Arzt aus Dippoldiswalde, ist der erste, der sich an diesem Abend den Beifall der Menge sichern kann. Er liefert das Startzeichen auch für die Diktion der folgenden dreistündigen Debatte. Was er in eines der bereitstehenden Mikrophone mit gepreßter Stimme hineinspricht, hat fast programmatischen Charakter. „Woher schöpft die Partei den Glauben, daß der Sozialismus siegen wird?“ fragt er weiter. Letztlich entscheide sich, zitiert er Lenin, die Systemfrage an der Ökonomie. „Die SED muß sich die Frage gefallen lassen, ob sie die Arbeiterklasse noch repräsentiert. Jede Partei, die führt, muß sich die Führung verdienen: deshalb Freie Wahlen.“ Die Zulassung der Oppositionsgruppen gehört für den Landarzt genauso dazu wie „die Aufgabe des Machtmonopols der SED und der Abbau des Apparates“.

Der Platz vorm Hygienemuseum am Rande der Altstadt in der sächsischen Elbmetropole ist an diesem Donnerstag abend gerammelt voll, die Stimmung ist antiautoritär. Alle Generationen der DDR sind versammelt, die 50jährige genauso wie der 18jährige Freak. Die halbe Stadt ist auf den Beinen. Einsam ragen die zwanzig Stockwerke hohen Wohnblocks rund herum in den milden Herbsthimmel. Das „Dredener Modell“ des Dialogs war in der 'Sächsischen Zeitung‘ angekündigt worden. Eine weißgetünchte kleine Bühne ohne jede Parole, ohne Fahnenschmuck bildet das Podium, links und rechts davon sind Mikrophone aufgebaut, und von dort aus kommen auch die wirklich neuen Töne an diesem Abend. Von dort aus formiert sich die wirkliche Wende in der DDR. Von dort aus werden auch die Zweifel geäußert am tatsächlichen Reformwillen der Partei- und Staatsführung. Von der Bühne hingegen spricht, wenn auch von der derzeit wohl moderatesten, reformwilligsten Seite her, der Apparat: vor allem der als Reformer geltende SED-Bezirkschef Hans Modrow und Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Sind es hundertfünzigtausend oder gar dreihunderttausend, die sich zu diesem Dialog versammelt haben? Eine Ahnung von der Größe dieser Versammlung bekam man bestenfalls dadurch, daß Beifalls- und Mißfallensbekundungen, Parolen oft mehrere Augenblicke, zählbare Sekunden brauchten, bis sie sich von irgendwo, einer Welle gleich, langsam aufs Podium und die Mikrophone hin zubewegten.

Die Partei ist einsam. Außer Modrow und Berghofer sind es vielleicht zwei oder drei andere, die sich im Laufe der Diskussion zu Wort melden. Auffallend vor allem: Auch Modrow hat größte Probleme, Punkte zu sammeln. Der Reformer und mögliche Nachfolger Joachim Herrmanns im Politbüro gibt sich dabei alle Mühe: Die Umwälzungen der sozialistischen Nachbarländer im Blick, „wird auch in der DDR ein Prozeß ausgelöst, der revolutionären Wandel zur Folge“ habe und „nicht zurückzudrehen ist“. Auch wenn er der Versammlung zuruft, dies sei nicht irgendein Tag, sondern ein „historisches Datum in der Geschichte der Stadt“, ist das Drängen der Menge - „den Reden müssen endlich Taten folgen“

-für ihn spürbar fast erdrückend. Er muß lavieren, spielt den Puffer zwischen Partei und Volk, ist sicher kein Gorbatschow der DDR, aber ein Hoffnungsschimmer in der Wüste der Politbürokraten. Die Antwort auf die Frage, warum die Öffentlichkeit nicht erfahren habe, weshalb die Politbüromitglieder Mittag (Wirtschaft) und Herrmann (Medien) abgelöst worden seien, charakterisiert sein ganzes Dilemma. „Sie entsprechen nicht den Anforderungen. Daß dies nicht im Kommunique des Zentralkommitees steht, ist eine Sache. Mein Antrag war es, dies auch öffentlich zu sagen.“ Es geht ihm dabei, auch das wurde deutlich, etwa um die abgewürgte Debatte um Preissubventionen. Rhetorisch geschickt formuliert er seine Kritik in eine Frage: „Soll die Preissubventionierung der Lebensmittel so bleiben?“ Dies werde eines der wichtigsten und kompliziertesten Probleme der nächsten Monate. Das Publikum ist einverstanden, spendet Beifall. Durch frenetische Zustimmung belohnt wird er auch dafür, daß er sich mit Vertretern des Neuen Forums am Mittwoch getroffen hat. Der immer wieder gestellten Forderung nach Zulassung der Oppositionsgruppe jedoch weicht er aus: „Das Problem des Neuen Forums ist eigentlich vom Minister des Inneren beantwortet. Daß ihnen und anderen das nicht paßt, wissen wir.“ Immerhin sei das Neue Forum jedoch mit seinen eigenen Transparenten anwesend, „mit dabei, beim Dialog, und das ist auch etwas“. Das Verhältnis zwischen ihm und den Demonstranten bleibt paternalistisch. Und die Wut darüber bringt ein Transparent treffend auf den Punkt: „Das Volk ist kein Bittsteller“. Der öffentlich artikulierte Reflexionsgrad über den Zustand der DDR und auch die Frage nach den Ursachen für die Abstimmung mit den Füßen - allein aus dem Bezirk Dresden sind 22.000 in diesem Sommer in den Westen abgehauen - sind bei der Bevölkerung immer noch größer als bei der Führung. Auch über die Ursachen der Randale vorm Hauptbahnhof hat ein Vertreter des Neuen Forums unter dem Beifall der Menge mehr zu sagen als die Parteioberen. Der junge Kriegsdienstverweigerer, der im Knast saß, hat in Stichworten das ganze Dilemma der derzeitigen Situation beschrieben. „Am 7.Mai waren Wahlen, deren Ergebnisse gefälscht wurden.“ Sein Eindruck dazu: „Man wollte uns sagen: Was ihr wollt, interressiert uns nicht.“

Die Volkskammer habe festgestellt, daß man den Einsatz des Militärs auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking verstehen kann. „Mein Eindruck: Man wollte uns sagen, wenn ihr etwas sagt, dann hütet euch.“ War das nicht der Anfang der Gewalt, fragt er? Und das Publikum antwortet mit einem fast schmerzlich klingenden Ja. Auch seine Ausführungen über die Gründe für die Ausreisewelle finden allgemeinen Anklang: Erster Grund seien 40 Jahre Wortentzug in der DDR. Er gehe im übrigen davon aus, daß die Ausreisewelle anhalten werde. Er machte der SED unter dem Beifall der Menge klar: „Über die Hiergebliebenen läßt sich sagen, es ist nicht immer eine Entscheidung der Überzeugung. Es ist auch Resignation, Angst davor, nicht kreativ genug zu sein, dort eine neue Existenz aufzubauen.“

Die Demonstration im Anschluß an die Debatte ging nicht zufällig an der alten Schloßruine, der Semperoper vorbei über die alte Elbbrücke, die heute Dimmitroff-Brücke heißt; vorbei am alten Renaissanceschloß, dessen Ruine auch den Niedergang Sachsens symbolisiere, wie einer der Diskutanten mit kritischem Unterton gegen den Berliner Zentralismus anmerkte. Modrow gestand zu, daß er mittlerweile auch überlege, ob Länderbildung oder Formen regionaler Wirtschaftsplanung notwendig seien. Unter Beifall sprach er sich gegen die Berlinlastigkeit der Planung aus.

Der Dialog in Dresden wird weitergehen. Modrow sagte aber auch: „Wir haben vielleicht noch vier Wochen soviel Zeit zum Dialogisieren wie jetzt, aber dann muß aufgearbeitet werden.“ Manche werden angesichts dieser Worte an die Äußerung eines der Diskutanten gedacht haben: „Wir haben 40 Jahre lang nichts zu sagen gehabt, jetzt sind erst einmal wir dran.“