Finnisch-sowjetische Koexistenz

Gorbatschows „Neues Denken“ erfüllt einen alten Traum des kleinen nördlichen Nachbarns / Seit 41 Jahren sind die Beziehungen entspannt /Jetzt kommt die Anerkennung der Neutralität  ■  Von Reinhold Dey

Berlin (taz) -Die Finnen haben niemals den Traum aufgegeben, daß aus dem Osten einmal ein Hoffnungsträger kommen wird. So kamen sie schon Nikita Chruschtschow mit starker Sympathie entgegen. Nach drei Kriegen gegen die Sowjetunion (1918, 1939/40 und 1941-44), deren ersten sie gewannen, haben die Finnen zwei Lektionen gelernt: Mit den Nachbarn muß man auskommen, Freunde soll man sich nicht in der Ferne suchen und Feinde nicht in der Nähe schaffen.

Es gelang ihnen bald nach 1945, die Beziehungen mit der UdSSR neu zu ordnen. Finnland hatte den zweiten und dritten Waffengang verloren, aber einen „Verteidigungssieg“ erreicht: Die Souveränität war gewahrt, die demokratische Struktur intakt. Finnlands Verfassung ist heute dieselbe wie 1919.

Nach außen schwach, aber innen stark und ohne die Erblast einer menschenverachtenden Diktatur: So schloß Finnland 1948 mit der Sowjetunion einen „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ ab. Seine Präambel konstatiert das Recht Finnlands, sich aus den Interessenkonflikten der Großmächte herauszuhalten. Die Artikel I und II regeln militärisch-politische Fragen. Sie galten im Westen lange Zeit als die Bretter für Finnlands Sarg. Artikel I besagt: Im Falle eines Angriffs von Deutschland oder mit Deutschland verbündeter Mächte gegen die Sowjetunion über finnisches Gebiet hinweg wird Finnland mit aller Kraft kämpfen, um diesen Angriff abzuwehren, im Bedarfsfall mit sowjetischer Hilfe. Artikel II: Falls ein solcher Angriff droht, werden die Vertragspartner zwecks Vorbereitung geeigneter Abwehrmaßnahmen in Konsultationen eintreten. Selbst im Herbst 1961, nach dem Mauerbau, hat die Sowjetunion keine Konsultationen gefordert.

Die Formulierung „deutscher Angriff“ und die sowjetische Verweigerung von „voll neutral“, das sind jahrzehntelang die Bauchschmerzen der finnischen Außenpolitik gewesen. Kaum wahrgenommen von anderen Staaten, die in außenpolitischen Fragen weniger zimperlich sind. Der finnisch-sowjetische Vertrag von 1948 - ausgehandelt, nicht aufgezwungen - trug dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis an der Nordwestflanke Rechnung. Er ermöglichte eine Koexistenz, die beispiellos ist: Mit keinem Nachbarstaat an seinen Grenzen sozialistisch oder sonstwas - hat die Sowjetunion ein derart entspanntes Verhältnis wie mit Finnland. Darum haben auch die Finnen kein Interesse daran, diesen Vertrag zu kündigen. Das wäre ohnehin erst im nächsten Jahrhundert möglich.

Finnlands EG-Beitritt

kein Problem

Helsinki (dpa) - Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hat zum Abschluß seines dreitägigen Staatsbesuches in Helsinki zu einem EG-Beitritt Finnlands Stellung genommen. In einem am Freitag veröffentlichten Interview erklärte er, Finnland müsse über die Frage einer möglichen EG-Mitgliedschaft selbst entscheiden. Die UdSSR würde keine Einwände dagegen erheben.

Gorbatschow erklärte weiter: „Ich selbst bin Anhänger eines Integrationsprozesses in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural.“ Er hatte am Donnerstag in einer Rede vor der finnisch -sowjetischen Gesellschaft in Helsinki hierzu die Schaffung einer gemeinsamen Wirtschaftskommission der drei großen Wirtschaftszusammenschlüsse EG, EFTA (Europäische Freihandelszone) und RGW (osteuropäische Wirtschaftsgemeinschaft) vorgeschlagen.