DDR-Übersiedler: Kein Bock auf Krenz

■ Trotz Dialog, Amnestie und Reisezusagen: Im Übergangslager Niedersachsendamm will keiner zurück

„Die können sich drüben meinetwegen auf den Kopf stellen, ich bleibe hier. Nochmal zurück? Nie wieder!“ Für Ilona M., Berlinerin (Ost), DDR-Postbeamtin und seit drei Wochen arbeitslose Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland, ist der Sozialismus ein für allemal gestorben. Daran haben auch die (endlich bunten) Fernsehbilder der letzten Tage nichts geändert, nicht „der Alko

holiker und Stasi-Typ“ Egon Krenz („das gleiche Arsch wie Honecker“), nicht die „Dialog-Angebote“ der SED, nicht das Neue Forum, die Massendemonstrationen, die Reiseversprechen. „Das Geld ist und bleibt ja nichts wert, ein Videorekorder kostet immer noch 10.000 Mark, ein Trabi über 20.000.“

„Der Sozialismus“ sagt Ilona M. ist im DDR-Staatsbürgerkun

deunterricht, „eine hervorragende Idee, die in der Praxis aber nur zum Alptraum werden kann. Daran ändert kein Dialog etwas. Die Menschen müßte man erst künstlich züchten, die im Sozialismus leben können. Der Kapitalismus nimmt die Menschen wie sie sind.“

Im Übergangswohnheim Niedersachsendamm nimmt der Kapitalismus Ilona M. wie sie ist.

Ein Dreibettzimmer, 120 Mark Miete pro Person, ein Tisch, drei Stühle, ein gebrauchter Farbfernseher von den ersten 100 Westmark gebraucht gekauft, ein Videorekorder zum Wochenendtarif in einer Videothek ausgeliehen, dazu ein Dutzend Filme: Action, Karate, Krimis. Die Männer trinken Dosenbier. Der Rekorder läuft ununterbrochen und bringt etwas Farbe in die zellenähnlichen Zimmerchen. Dazu Marlboro oder Selbstgedrehte. DDR-Fernsehen ist nicht zu empfangen „Leider“, findet Matthias H.: „Drüben habe ich nie DDR geguckt. Jetzt wäre es das erste Mal spannend.“ - Der Videorekorder zeigt einen langen Kuß des Helden. Kassettenwechsel.

„Vielleicht wäre ich sogar dageblieben, wenn ich das geahnt hätte, hätte noch abgewartet, hätte auch demonstriert. Aber jetzt umkehren, nein! Dafür gibt's da noch zu viele Kommunisten. Die müßten erst aussterben.“ Der Videorekorder zeigt eine Motorradjagd, ein gefesslter Mann wird durch die Straßen einer amerikanischen Großstadt geschleift. „Noch'n Schnaps?“

Trotz aller Beteuerungen - den Krenz und Schabowskis traut H. auch heute noch nicht über den Weg: „Denen geht es nur darum, die Entwicklung unter Kontrolle zu bekommen. Alles taktische Zugeständnisse, der Druck soll raus. Und wenn wir nicht mit Tausenden anderen abgehauen wären, wäre auch nach Honecker nichts passiert.“

Pressefreiheit, Meinungsfrei heit, Reisemöglichkeiten - das allein wäre dem LKW-Fahrer und Straßenbauarbeiter viel zu wenig. „Nervtötend ist die völlig sinnlose Arbeit. Ich hab Kies aufgeladen, bin 50 Kilometer gefahren, hab abgeladen, wieder aufgeladen usw. Es kam ja nicht darauf an, den Kies dahin zu bringen, wo er gebraucht wurde, es kam darauf an den Plan für das Transportwesen zu erfüllen.“ In der Glotze: Dutzende von Karatekämpfern. Sie bewegen sich im Gleichschritt mit synchronen Handkantenschlägen und Fußstößen auf einen imaginären Gegner zu.

Zimmernachbar Andreas F., Bremer Übergangswohnheim Niedersachsendamm, ist nicht ganz so pessimistisch. Wenn der gelernte Tischler nicht vor sechs Wochen in die BRD gekommen wäre: „Ich wäre heute auf der Straße bei den Demonstranten“. Ob er sich vorstellen kann, wieder nach Hause zu fahren? „Wenn die Mauer weg wäre, die Stasi aufgelöst würde, ich meine Meinug sagen dürfte - vielleicht!“

Für seine Meinung hat F. vor seiner Ausreise sechs Jahre im DDR-Knast gesessen „wegen Herabwürdigung des Staatsratsvorsitzenden“. „Honecker ist ein Killer“ hatte F. in einer Kneipe gesagt und später in der Gerichtsverhandlung mit dem Schießbefehl an der Mauer begründet. Im Übergangslager träumt er jetzt von der Wiedervereinigung wegen der vielen Freunde drüben.

K.S.