WAHRHEIT MUSS SEIN

■ Inzest oder Independent im Quartier und Ecstasy

Im vergangenen Jahr gab's zu den BID die begleitende, von Radio 100 organisierte Gegenveranstaltung „Big Mess“, die sich durch Präsentation ungewöhnlicher, unbekannter Bands offensiv von der unrepräsentativen Profiveranstaltung abgrenzte. Diesmal fand, vorsichtig zurückhaltender, ein ergänzender Alternativabend mit Berliner Kapellen plus Gast parallel zur Eröffnungsparty der BID statt. Der „Berlin Inzest Day“ soll als einzige von den Bands selbst organisierte Veranstaltung im BID-Umfeld auf die unberücksichtigte Basis des Musikschaffens hinweisen. Independent, also Unabhängigkeit bedeutet eben nicht nur die strategische Diskussion weltweiter Produktdistribution, sondern auch, sich fernab von Kleinfirmen selbst um die Präsentation und Verbreitung seiner persönlichen Musik zu kümmern.

DER FREMDE Gast aus Köln im Quartier lockt mit lockerem Schülerbandcharme die ersten vor die Bühne. Mit deutschen Texten, deutschem Pop schaffen sie es, die Grenze zum bekannt peinlichen Deutschrock nicht zu überschreiten, bewegen sich zwischen Psychedelic - denn sie sind manisch dabei - und Pop - denn ihr überzeugter Einsatz bringt den Spaß unter die Leute, sie streuen sozusagen kleine Wahrheiten unters Volk.

Gegenüber dieser subversiven Stimmungsmache agieren die SIDEWALK POETS offen plakativer. Speziell die Sängershow läßt das „Wir sind intellektuelle Outlaws„-Image affektiert heraushängen, was den betrunkenen Fotografen zu seinen Füßen anregt, ihn dauernd anfassen zu wollen. Vielleicht kennt er den Terror der Mittelklasse: die Langeweile. Dies Bedürfnis nach Körperkontakt weicht nicht von ihm, was den Sänger von DIE SEUCHE öfter der Stolpergefahr aussetzt. Er benötigt eh‘ schon die gesamte Bühne für seine Hampeleien und kann nicht noch darauf achten, welche Hände nach ihm greifen. DIE SEUCHE drischt munter drauf los, karikiert das Macho -Posing und gebärdet sich gut grimmig, so daß die Stimmung steigt und im kollektiven SEUCHE-Aufschrei mündet: „Scheiße!!!“ Auch eine Wahrheit...

Im Ecstasy geht es, dem dortigen Publikum entsprechend, moderater zu; es ist ja auch offizieller diese Nacht. Hier zeigt sich, was den Unterschied zur Alternative ausmacht: höhere Professionalität unpopulärer Musik. Regungslose Amerikaner bauen mit versteinerten oder schmerzverzerrten Gesichtern eine Gitarrenlärmwand vor sich auf, die vom Drummer sauber in Struktur gebracht wird. Eine ganz andere Art von Überzeugung. BITCH MAGNET treten personell fast völlig hinter ihre Musik zurück, die allein das Potential hat, alle Fragen und Problemchen niederzudrücken oder wegzupusten. Es ist atemberaubend, perfekt organisiertes Chaos, die Wahrheit im Sound. Die Perfektion hält natürlich auch die Stimmung im Zaum, nicht aber das wichtigtuerische Gelaber der offensichtlichen BID-Registrierten.

So liegt die Wahrheit in der Mitte: Was der Inzest an Spaß bringt, hat die BID an Präzision, zumindest an diesem Abend. Nur schade, daß beide Parties zeitgleich gefeiert wurden, und daß die Alternative auf eine Nacht beschränkt bleibt. Die größte Publikumsbeigeisterung lag übrigens auch in der räumlichen Mitte, nämlich zwischen Quartier und Ecstasy, abseits von Eröffnung und Ergänzung, bei FEELING B aus Ost-Berlin im KOB.

Schwalbe