Altlastsanierung

Mit Wohnbauargumenten gegen Kinderbauernhof und Backsteinfabrik  ■ K O M M E N T A R

Daß die Wohnungsnot im Moment das zentrale stadtpolitische Problem ist, wird niemand bezweifeln. Daß alles getan werden muß, um schnell und viel zu bauen, wird auch niemand bestreiten. Daß aber neuerdings der Bausenator zum Überbürgermeister avanciert ist und alle sozialen, kulturellen und politischen Felder unter das Diktat des Wohnungsbaus stellt, muß heftig kritisiert werden. Gänzlich unakzeptabel wird es aber dann, wenn Bezirkspolitiker die Wohnungsnot als Totschlagargument mißbrauchen, als Vorwand, um sich unliebsamer Probleme zu entledigen.

So geschehen in Kreuzberg. Eine Mehrheit aus CDU und SPD hat die Gunst der Stunde erkannt und will sich nun endlich der „Altlast“ Backsteinfabrik entledigen und den Kinderbauernhof an der Adalbertstraße zähmen. Diese letzten Überbleibsel radikaler Besetzerzeiten, die die Integration überdauert haben, sollen sich nicht etablieren dürfen. Der „Verein Kosmos“ bekommt das Fabrikgebäude, die Backsteinfabrik, nicht. Auf dem Gelände des Kinderbauernhofs werden Wohnungen geplant.

Doch der Bezirk will nicht nur die Projekte und die Leute loswerden, er fürchtet sich auch vor ihrer Anziehungskraft auf Leute außerhalb Kreuzbergs und aus Westdeutschland. Der Schock des 1.Mai sitzt den Bezirkspolitikern in den Knochen. Doch das Image Kreuzbergs als Zufluchtsort für unterdrückte Träume und diffusen Widerstand kann man nicht wegsanieren.

Der Kinderbauernhof und in gewisser Weise auch die Backsteinfabrik sind die einzigen Institutionen, die noch daran erinnern, daß es der Häuserkampf gegen die Spekulanten war, der Kreuzberg zu dem gemacht hat, was es heute ist. Das verschafft ihnen, jenseits der Beurteilung ihrer Arbeit, eine politisch-moralische Existenzberechtigung, die nun gerade mit dem Argument der Wohnungsnot nicht zu entkräften ist.

Brigitte Fehrle