Wie geht's weiter nach der 35-Stunden-Woche

Zum Abschluß ihres einwöchigen Gewerkschaftstages in Berlin diskutierte die IG Metall die Perspektiven nach der kommenden Tarifauseinandersetzung / Steinkühler will sich nicht auf weitere Arbeitszeitverkürzungen festlegen lassen  ■  Von G. Sterkel/M. Kempe

Berlin (taz) - Ab sofort steht alles im Zeichen der Tarifauseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche im nächsten Frühjahr. Der Tarifpolitiker Klaus Zwickel forderte am Sonnabend die Delegierten des 16. ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall in Berlin auf, von jetzt an alle Überstunden zu verweigern. Schließlich könne man nicht glaubwürdig für kürzere Arbeitszeiten kämpfen „und gleichzeitig Überstunden klopfen“. Und sein Vorsitzender, Steinkühler, bekräftigte: Die IG Metall sei zwar bereit, den Kompromiß auf dem Verhandlungswege zu suchen, aber sie werde dem „sozialen Großkonflikt nicht ausweichen“. Die IG Metall fordert, das steht jetzt schon fest, die Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden (derzeit 37 Stunden), einen kräftigen Schluck aus der Lohnpulle, die Sicherung des freien Wochenendes und die Begrenzung der Überstunden auf höchstens zehn pro Monat bei vollem Freizeitausgleich von der ersten Stunde an.

Die bevorstehende Auseinandersetzung wird die kommenden Monate in der Gewerkschaft und in den Betrieben bestimmen. Aber wie es danach tarifpolitisch weitergehen soll, blieb auf dem Gewerkschaftstag noch unklar. Viele Delegierte, vor allem IGM-Frauen, plädierten dafür, die Wochenarbeitszeitverkürzung über die 35-Stunden-Woche hinauszutreiben. Sie wollen die 30-Stunden-Woche in den Zielkatalog ganz oben mit aufnehmen und gleichzeitig bei der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung möglichst „alltagsnahe“ Formen suchen, etwa die Verkürzung der täglichen Normarbeitszeit auf sieben statt bisher acht Stunden. Grund: Nur so läßt sich auch für Frauen ein gleichberechtigter Zugang zur Erwerbsarbeit allmählich durchsetzen.

Die IGM-Führung lehnte diese Forderungen zwar nicht direkt ab, aber sie sträubte sich massiv dagegen, jetzt schon darauf festgelegt zu werden. Steinkühler plädierte vehement dafür, nach Durchsetzung der 35-Stunden-Woche zunächst einmal eine Denkpause einzulegen, um die Prioritäten zukünftiger Tarifpolitik in der Organisation breit diskutieren zu können. Die Arbeitszeitpolitik habe nun ein Jahrzehnt lang im Zentrum der IGM-Strategie gestanden. Es habe sich in anderen Bereichen ein erheblicher Regelungsstau ergeben, beispielsweise bei den Problemen Leistungsverdichtung, Entgeltstruktur (z.B. Frauenlöhne, Ungleichbehandlung von Angestellten und Arbeitern), Recht auf berufliche Weiterbildung während der Arbeitszeit usw. Der Gewerkschaftstag folgte in diesem Punkt seinem Vorsitzenden.

Auch angesichts des bevorstehenden EG-Binnenmarktes werden die Zeiten für die Gewerkschaft nicht leichter. Im Gegensatz zu ihren Oberen zogen die Delegierten daraus die Konsequenz, daß kleinliche ideologische Streitigkeiten zwischen nationalen Gewerkschaften im Zeichen von EG und Massenarbeitslosigkeit nicht mehr in die politische Landschaft passen. „Auszählen, Auszählen!“, brüllte der halbe Saal, als die Abstimmung nicht eindeutig erkennbare Mehrheiten darüber gebracht hatte, ob man auch mit kommunistischen Gewerkschaften innerhalb der EG, etwa der CGT in Frankreich oder den Commissiones Obreras in Spanien, zusammenarbeiten solle. Das Ergebnis wird der IGM-Spitze noch Kopfschmerzen bereiten. Schließlich hat sie bis heute alle offiziellen Kontakte oberhalb der betrieblichen Ebene mit diesen Gewerkschaften strikt abgelehnt (Steinkühler: „Mit Leuten, die das chinesische Massaker unterstützen, rede ich nicht.“) und außerdem ist die IGM über den Internationalen Metallarbeiterbund ihren sozialdemokratischen „Schwestergewerkschaften“ verpflichtet.

Wenn auch die langfristigen Ziele noch nicht klar sind: die IGM will sich auch in ihren internen Strukturen auf härte Zeiten vorbereiten. Dazu gehört vor allem wie zukünftig zusätzliches Geld in die Kasse kommt. Der Kassierer im Vorstand der IGM, Werner Schreiber, hatte ein Paket von Satzungsänderungen vorgelegt, das das Gefühlsleben der Gewerkschafter tief aufwühlte - zu tief, um es mit ein paar schnellen Beschlüssen abzuhaken. Zwar haben die Delegierten geschluckt, daß Lehrlinge und Rentner in Zukunft höhere, ihren Einkünften angepaßte Beiträge entrichten sollen. Aber die Kürzung von Sozialleistungen für aus dem Berufsleben scheidende Altgewerkschafter wollen sie doch so ohne weiteres nicht mitmachen. Über keinen anderen Antrag wurde in Berlin länger diskutiert als darüber, ob den Rentern in Zukunft nicht mehr wie bisher 20 Prozent ihrer gesamten Beitragsleistung zu Beginn ihres Ruhestands ausgezahlt werden sollen. Immerhin geht es dabei derzeit um jährlich 25 Millionen (Tendenz steigend), die der Kassierer lieber in der Streikkasse sähe. „Wir sind ja schließlich kein Sparverein“, wurde er von einigen Delegierten unterstützt. Andere aber mochten ihren alten Kollegen den lieblosen Verzicht nicht antun und waren schon gar nicht mit dem einverstanden, was Schreiber statt dessen vorgeschlagen hatte: ein „dynamisiertes“ Sterbegeld für Altmetaller. Dieses Problem war in der vorgesehen Zeit nicht auszudiskutieren, und so blieb der größere Teil des dicken Antragspakets unerledigt. Der Gewerkschaftstag wird am 21./22. November in Frankfurt fortgesetzt.