Ein historischer Tag für den ANC

■ Zehntausende bejubelten die sieben freigelassenen ANC-Führer / Aus dem Stadion Hans Brandt

Was da gestern im neuen Soccer-City-Stadion bei Johannesburg geschah, war mehr als nur eine „Begrüßung“ der ehemaligen prominenten politischen Gefangenen um Walter Sisulu, als welche die Kundgebung vom weißen Minderheitsregime in Südafrika zugelassen worden war. Nein. Die nahezu hunderttausend Menschen, die sich schon seit dem frühen Morgen auf das Stadion zubewegten, machten die Veranstaltung zu einer der größten oppositionellen Kundgebungen in der Geschichte des Rassistenstaates. Die Rednertribüne wurde von einem Transparent mit der Aufschrift „Der ANC lebt, der ANC führt“ geschmückt. Seit dem Verbot des „African National Congress“ im Jahr 1960 ist es das erste Mal, daß eine ANC -Demonstration auf südafrikanischem Boden stattfindet. In einer Grußadresse des im Exil lebenden ANC-Führers Tambo wurde Pretoria aufgefordert, zwischen Konfrontation und dem Verhandlungsweg zu wählen.

„ANC, ANC, ANC!“ donnert der Sprechchor aus mehr als 80.000 Kehlen durch das Stadion. Angeführt von einer Vorhut von ANC -Aktivisten in Khaki-Uniformen marschieren dann die vor zwei Wochen freigelassenen ANC-Führer ins Stadion. Hunderte von kleinen und großen ANC-Fahnen werden geschwenkt. Walter Sisulu, der ehemalige Generalsekretär des ANC, und seine Kollegen laufen eine Ehrenrunde, halten hier und da kurz vor den Rängen. Da springen die Leute von den Sitzen und drängen sich nach vorne, um die acht alten Männer genau zu sehen. Nur der fünf Meter tiefe Betongraben zwischen Rang und Spielfeld schützt die ANC-Führer davor, von ihren Anhängern wortwörtlich überrannt zu werden. Sehr gut marschieren können die ANC-Kader in den Khaki-Uniformen nicht. Aber der Demonstrationslauf der bewaffneten Mitglieder der ANC-Armee „Umkhonto We Sizwe“ (Speer der Nation“) innerhalb Südafrikas kommt gut an. Dutzende der etwa 700 Ordner, die von den Organisatoren eingens für diese Veranstaltung ausgebildet wurden, legen zusätzlich eine schützende Menschenkette um die acht Führer.

Tambos Botschaft

Die Versammlung findet im nagelneuen „Soccer City„ -Fußballstadion außerhalb von Soweto statt. Fußball ist der Sport der schwarzen Massen in Südafrika, und das neue Stadion ist der Stolz der hiesigen Liga. Doch auch in Südafrika sind Schlägereien und Randale bei Fußballspielen an der Tagesordnung. Erst letzte Woche wurden Hunderte von Sitzen hier im neuen Stadion zerstört, als enttäuschte Fans ihrer Wut Luft machten. Bei der heutigen Versammlung könnte sich die Wut höchstens gegen die Polizei richten. Aber die hält sich zurück, ist nur am Rande zu sehen. Lediglich ein Hubschrauber (Marke MBB) kreist ab und zu über dem Stadion.

Die Versammlung wird formell eröffnet von Oliver Tambo, dem Präsidenten des verbotenen Afrikanischen Nationalkongresses (ANC). Tambo befindet sich zur Zeit nach einem Schlaganfall in einem Krankenhaus in London. Er ist seit den sechziger Jahren im Exil. In Südafrika darf er nicht zitiert werden. Als seine Rede jetzt verlesen wird, ist es für viele der Anwesenden das erste Mal, daß sie Tambos Worte hören. „Unser Land steht an einem Scheideweg“, sagt Tambo. „Das Ziel wird die vollkommene Zerstörung der Apartheid sein, egal, welcher Weg eingeschlagen wird.“ Die Wahl des Weges, so Tambo, liege in den Händen des südafrikanischen Präsidenten Frederick De Klerk. „Mit seinen Taten wird er entscheiden, ob wir auf dem Weg einer verhandelten Lösung gehen, die das System der Apartheid, die Vorherrschaft einer weißen Minderheit abschaffen wird.“ Wenn De Klerk dies nicht tue, so Tambo, „wird er, zusammen mit dem kriminellen System, das er verteidigen wollte, auf dem Müllhaufen der Geschichte verschwinden.“

Die höhnisch lachenden Zuschauer machen keinen Hehl daraus, daß sie De Klerk dieses Schicksal wünschen. „Wir hoffen, daß der heutige Tag der Anfang vom Ende ist“, sagt mir Malefo Nomsalisa, eine junge Aktivistin aus Mamelodi bei Pretoria. Sie trägt ein T-Shirt mit den Bildern der acht befreiten Führer und einen Aufkleber der Frauenorganisation Fedtraw. „Heute können wir endlich demonstrieren, wer unsere wirklichen Führer sind.“ Sie ist siegessicher. „Wir müssen Schritte unternehmen, um die Krise hier noch zu vertiefen“, meint sie. „Nur so kann der Druck verschärft werden, um die Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen.“

Busse von überall her

Fast drei Stunden lang haben die ZuschauerInnen in der Frühlingshitze auf die Ankunft von Sisulu und seiner Kollegen gewartet. In dieser Zeit wurden Freiheitslieder gesungen oder Gedichte vorgetragen. Indessen verkauften Stände vor dem Stadion Tausende von T-Shirts, viele mit der Aufschrift „Der ANC lebt, der ANC führt!“ Hunderte von Bussen brachten weitere ZuschauerInnen, Busse, die vom Tanzen der PassagierInnen auf den Federn wiegten. Tanzend und singend, umgeben von einer Staubwolke, zogen die ankommenden Gruppen ins Stadion ein.

Mehr als 300 Busse kamen aus allen Teilen Südafrikas. Ein Jugendlicher, der die Nacht durch aus der Hafenstadt Durban hierhergefahren ist, tanzt immer noch voller Energie. „Ja, ich bin schon müde. Aber heute ist ein großer Tag. Wer will das schon verpassen.“ Als einer der ersten aus seiner Gruppe drängt er sich an den T-Shirt-Stand und zieht sich das neue Hemd gleich über. Edwin, ein junger Arbeiter aus Secunda, 200 Kiometer südöstlich von Johannesburg, hat kein T-Shirt nötig. Er hat sich eine große ANC-Fahne um die Schultern gehängt und sie mit einer Anstecknadel des Kongresses südafrikanischer Gewerkschaften Cosatu am Hals befestigt. Seine Augen sind versteckt unter einer militärischen Khakimütze und hinter einer dunklen Sonnenbrille. „Das ist eine große Feier heute“, meint er. „Aber wir werden nach dieser Versammlung auch sehen, wie es in Zukunft in Südafrikas weitergehen soll.“ Er ist überzeugt, daß Sisulu und die anderen trotz ihres Alters und ihrer 26jährigen Haft eine Rolle im Kampf spielen können. „Sie sind geistig noch immer stark.“

„Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen“

Doch nicht nur junge Leute sind heute gekommen. „Ich kenne Sisulu und die anderen schon von ähnlichen Versammlungen in den fünfziger Jahren“, sagt der 72jährige Nathan Harris. Er ist zwar nicht der einzige Weiße hier. Aber die paar Hundert weißen Gesichter fallen dennoch in der Masse der schwarzen ZuschauerInnen auf. „Ich bin gekommen, um zusammen mit allen hier die Freilassung dieser Gefangenen nach 26 Jahren zu feiern.“ Harris‘ Frau ist Mitglied der Menschenrechtsorganisation für Frauen „Black Sash“ („Schwarze Schärpe“). Darüber hat er seit 33 Jahren Kontakt mit dem Kampf gegen die Apartheid. „Diese Versammlung muß für die Machthabenden eine Demonstration sein, daß diese Leute keine Terroristen sind, sondern Menschen, die für Freiheit kämpfen.“

Die Aussage ist wie ein roter Faden, der sich auch durch die Reden der Führer zieht. Raymond Mhlaba, der zusammen mit Sisulu verhaftet und freigelassen wurde, gibt der Menschenmenge eine lange Geschichtslektion. Langatmig beweist er, daß der ANC nie den bewaffneten Aufstand geplant hat, sondern immer auf Gleichberechtigung in Frieden gepocht hat. „Wo immer eine Mehrheit der Bevölkerung von einer Minderheit unterdrückt wird, geht die Minderheit zum bewaffneten Kampf über“, sagt Mhlaba. „Auch wir haben das Recht, unseren Ansichten friedlich Ausdruck zu geben, aber ab und zu eben auch auf gewaltsame Weise.“

Und dann: Sisulu

Als er endlich ans Rednerpult tritt, muß Walter Sisulu erst warten, bis ein Freiheitslied ihm zu Ehren gesungen wird. Auch er spricht den bewaffneten Kampf an. „Wir treten für Frieden ein, heute und morgen“, sagt Sisulu. Doch eine Aufgabe des bewaffneten Kampfes sein nur möglich, wenn die Regierung die Forderungen des ANC für Verhandlungen erfüllt. „Wenn das geschieht, ist der ANC bereit, eine Suspendierung der Kampfhandlungen auf beiden Seiten zu diskutieren. Aber es kann keine Rede von einer einseitigen Aufgabe des bewaffneten Kampfes sein.“

Sisulu, der immer wieder von Applaus unterbrochen wird, spricht in seiner Rede alle Aspekte des Anti-Apartheid -Kampfes an. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern linker Gruppen und der konservativen Zulu-Gruppe Inkatha, die in den letzen zwei Jahren mehr als 900 Menschenleben gefordert haben, verurteilt er als Schandfleck des Kampfes. Er unterstützt Wehrdienstverweigerer, ruft traditionelle Häuptlinge, Polizisten und andere bisher als Kollaborateure der Apartheid Verurteilte dazu auf, sich dem Kampf gegen Apartheid anzuschließen.

Doch er macht auch klar, daß der Druck auf die Regierung nicht abnehmen kann. „Wir können nicht darauf warten, daß die Regierung Veränderungen nach ihrem eigenen Tempo durchführt.“

In der vergangenen Woche hatte Südafrikas Minister für Recht und Ordnung, Adriaan Vlok, mit Schärfe dagegen protestiert, daß die Versammlung als Veranstaltung des noch immer verbotenen Afrikanischen Nationalkongresses angekündigt wurde. Noch am Freitag wurden die Organisatoren der Versammlung vom Amtsrichter in Johannesburg, der schon seine Zustimmung für das Treffen gegeben hatte, vorgeladen. Der Richter zeigte sich besorgt, daß die Ziele des ANC bei der Versammlung gefördert werden könnten. „Wir haben ihm gesagt, daß die Ziele des ANC Teil der Bevölkerung sind“, berichtet Cyril Ramaphosa, Generalsekretär der Bergarbeitergerwerkschaft NUM. „Man braucht sie nicht zu fördern.“

Dem Richter und seinen Vorgesetzen im Justizministerium mußte ohnehin klar gewesen sein, daß die Versammlung nicht mehr verboten werden konnte, ohne großen politischen Schaden anzurichten. Tatsächlich ist die Versammlung trotz aller Wortspielerei eine Veranstaltung des ANC. Wie sagte Walter Sisulu? „Heute hat der ANC das Zentrum der politischen Bühne in Südafrika eingenommen.“