„Ein bißchen Reformen, ein bißchen Dialog“

Professor Dr.Friedrich Loewenstein von der FU Berlin zur Situation in der CSSR  ■ I N T E R V I E W

taz: Zum 71.Jahrestag der Gründung der tschechoslowakischen Republik sind zum ersten Mal seit 20 Jahren über 10.000 Prager auf die Straße gegangen. Sehen Sie darin ein Zeichen, daß nun auch die CSSR, als letzte Bastion des Breschnewismus, ins Wanken gerät?

Loewenstein:So wie sich die Verhältnisse momentan offenbaren, werden sie nicht bleiben. Sie tragen deutliche Züge eines Übergangscharakters. Eine Niederschlagung des Protestes ist genauso möglich wie ein Durchbruch in Richtung Reform. Dennoch hat die derzeitige Führung immer noch einen Trumpf in der Hand. Den Korruptionsfonds, will ich mal sagen, der bisher immer für eine Stabilisierung gewirkt hat. Polnische Zustände sind ein Schreckbild für die meisten meiner Landsleute. Daher bin ich mir nach der jahrzehntelangen Entpolitisierung der Bevölkerung nicht sicher, ob aus dem Volk heraus genügend Energien mobilisiert werden für eine Veränderung.

Hat sich nicht aber doch im Vergleich zu den Protesten noch im vergangenen Jahr eine neue Qualität ergeben in Masse und Form der Demonstrationen?

Ja, das ist der Unterschied von zwei und zehntausend Demonstranten. Wenn 2.000 ihre Unterschrift unter die Charta setzen, dann sind es ein paar Moralisten, die Harakiri begehen, die nicht schweigen können. 10.000 machen da schon einen qualitativen Sprung aus, bleiben aber eine Minderheit. Wer da auf die Straße geht, muß man differenzieren. Zehntausend reichen nicht aus, es müssen Hunderttausende werden, und das sehe ich momentan nicht. Dazu müßte es den Leuten wirtschaftlich schlechter gehen. Das System müßte sich noch mehr kompromittieren.

Worauf führen sie die schwindende Angst zurück. Zeigen sich Risse im Sicherheitsapparat?

Der Sicherheitsapparat ist stark verunsichert durch Gorbatschow und die Ereignisse in den anderen Ländern. Man weiß nicht, wo es lang geht, hofft aber auf Gorbatschows Sturz, um dann sagen zu können: Wir hatten schon unsere Erfahrung mit der Konterrevolution. Seit etwa zwei Jahren versuchen sie sich ja an einer Art Viertelreform, ein bißchen Öffnung, ein klein wenig Dialog und sachtere Repression.

Deutet dies nicht auf eine Diversifizierung der Kräfte in der Kommunistischen Partei hin?

Das Bild eines homogenen Blockes bot die Partei nie. Auch nicht nach den 68er Säuberungen. Innerhalb der Partei spielte immer der Strougal-Flügel eine Rolle. Er steht für Pragmatismus, war weniger ideologisch, mit der Tendenz zum Technokratischen. Adamec ist heute so ein Vertreter. Sie wollen ein bißchen Reform oder sehen die Unumgänglichkeit wegen der wirtschaftlichen Misere, die sich anbahnt.

Eine Kraft, die die Verantwortung übernehmen könnte, sehen Sie die in der Partei heranreifen?

Nein, anders als '68 steht zur Zeit keiner in den Startlöchern. Damals hat sich eine breite Reformintelligenz entwickelt. In einem totalitären Regime ist es wichtig, was sich innerhalb der Strukturen tut, der Elitedissens ist entscheidend, nicht nur der Druck von außen.

Welche Wirkung haben denn die jüngsten Ereignisse in der DDR auf die Diskussion in der Bevölkerung und innerhalb der Partei. Das kann doch nicht spurlos an ihr vorübergehen?

Ich glaube, das kann man gar nicht überschätzen. Die Politbüros in Ost-Berlin und Prag waren aufeinander abgestimmt. Ost-Berlin war die Stütze der Reforgegner in Prag. Verunsicherung wird weiter um sich greifen.

War nicht schon das letzte ZK-Plenum der KPTsch ein klarer Beweis für diese Verunsicherung? So die Einheit beschwörende Töne Jakes hatte es bisher doch nicht gegeben?

Schauen Sie, Jakes wird von niemandem wirklich ernstgenommen. Er war ein Verlegenheitskandidat, außerdem ist er durch seine Vergangenheit kompromittiert. Er taugt nicht mal als Rammbock für irgendeine Strömung. Die Situation in der Partei, das läßt sich an dem Plenum ablesen, ist offener geworden. Ob sich neue Reformkräfte schrittweise durchsetzen können, wird sich demnächst zeigen. Die Lage ist in Bewegung geraten, und die Entwicklung in der DDR spielt dabei eine wesentliche Rolle.

Welche Bedeutung könnte den Blockparteien und der neugegründeten Sozialdemokratie bei einem Umgestaltungsprozeß zukommen?

Die neue sozialdemokratische Partei besteht nur aus ein paar Leuten. Die anderen beiden bürgerlichen Parteien spielen überhaupt keine Rolle und repräsentieren auch niemanden. Natürlich kann sich da einiges später entwickeln. Noch beschränkt sich ihre Wirkung auf die Legitimation von Scheinverfahren. In der CSSR sind diese Parteien noch unbedeutender, glaube ich, als sie es in der DDR sind.

Könnte es sein, daß so eine Gruppe wie „Obroda“, in der sich die alten 68er Reformkommunisten sammeln, noch einmal zu Hilfe gerufen wird, wenn die jetzige Führung ihre Felle endgültig wegschwimmen sieht. Hat sich andererseits der Sozialismus nicht gänzlich diskreditiert in der CSSR?

Die Obroda-Gruppe glaubt noch an die Reformierbarkeit des Systems. Sie versucht ja auch, mit der Partei ins Gespräch zu kommen. Ihre Vertreter sind durchweg ältere Semester im Pensionsalter. Ich vermute aber, der Sozialismus hat abgewirtschaftet, die Leute werden ihm weglaufen. Aus Opportunismus wird man so eine Form des Sozialismus vielleicht noch akzeptieren. Die Chance ist vor zwanzig Jahren vertan worden.

Ein wesentliches Motiv der Stabilität des Systems sehen Sie in dem relativen Wohlstand der CSSR. Ähnliches dachte man auch von der DDR, in der sich der Unmut der Bevölkerung in ziemlich kurzer Zeit Luft gemacht hat.

Im Vergleich zur DDR fehlen zweierlei: das Westfernsehen und der Massenexodus. Es existiert gegenüber dem Westen so eine Barriere, von ihm hat man nur die Vorstellung einer Wohlstandsgesellschaft. Um eine Veränderung zu bewirken, müßten die Arbeiter und Bauern in Bewegung kommen, und da tut sich noch nichts.

Interview: Klaus-Helge Donath