Die realexistierende Katastrophe

■ Sofia Margolinas Beitrag bilanziert die verheerende ökonomische, gesellschaftliche und moralische Situation der UdSSR

Sofia Margolina

Geht die Perestrojka zu Ende?“ Diese Frage stellt sich allen, die aufmerksam die Entwicklung der Ereignisse in der Sowjetunion verfolgen. In der sowjetischen Presse mehren sich die Anzeichen für wachsende Sorge und Orientierungslosigkeit. Die Publizistik, die vor nicht ganz drei Jahren ihre Abrechnung mit dem Stalinismus begonnen hat und inzwischen bei der Analyse aller düsteren Seiten der Sowjetgesellschaft angelangt ist, gerät in Panik. Alles auf einmal

Es hat sich herausgestellt:

-Alle Statistiken seit dem Ende der zwanziger Jahre sind gänzlich manipuliert. Die Erfolge der ersten Fünfjahrpläne waren durchaus nicht so überwältigend, die Verluste gewaltig.

-Ein Großteil einer in einer tausendjährigen Geschichte Rußlands angehäuften Kultur ist geplündert, für lächerliche Beträge ins Ausland verkauft worden, wo sie heute amerikanische Museen oder Privatsammlungen - wie etwa des „besten Freundes der UdSSR“, Armand Hammer - schmücken.

-Die Natur des Landes, von den „größten Dichtern und Schriftstellern der Welt“ immer wieder besungen und gepriesen, wurde vergewaltigt und verseucht. Im Lande gibt es Hunderte von ökologischen Krisenzonen, wo man schon nicht mehr davon spricht, wie Tiere und Pflanzen zu retten sind, sondern wie der Mensch darin weiterleben kann. Tschernobyl der Zynismus ist unübertrefflich: nach wie vor werden Lebensmittel aus den verseuchten Zonen Bjelorußlands und des Brester Gebietes in andere Teile der UdSSR geschafft und so neue Herde erhöhter Radioaktivität erzeugt. Hunderttausende Bürger Bjelorußlands und anderer Bezirke, die von radioaktiven Isotopen betroffen wurden, können nicht in andere Gebiete übersiedeln, da sich die Behörden weigern, die Region zur Gefahrenzone zu erklären und finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Viele Kinder leiden an Schilddrüsenerkrankungen, aber die Statistiken der Erkrankungen und Todesfälle werden ständig gefälscht. Die Industriestädte des Ural und Sibiriens sind derart verschmutzt, daß fast alle Kinder dort bereits mit gewissen Pathologien zur Welt kommen. Jährlich sterben im Land aus ökologisch bedingten Gründen 130.000 Menschen. Bestimmte Zonen des ökologischen Ausnahmezustandes, wie etwa das Becken des immer mehr verschwindenden Aral-Sees, spotten jeder Beschreibung.

-Über Nacht ist die Situation der Familie und der Kindererziehung als vielleicht bedrängendstes Problem in den Vordergrund gerückt. Die Zahl der Scheidungen in den Großstädten beträgt mehr als 50 Prozent, an manchen Orten liegt sie schon bei 80 bis 90 Prozeht. Jedes zehnte Kind kommt außerehelich zur Welt und die Zahl der ausgesetzten Kinder liegt bei über einer Million. Mehr als 2000 Kinder machen jährlich durch Selbstmord ihrem Leben ein Ende.

-Die Zeitungen sind voll von Berichten über eine wachsende Verwilderung unter den Jugendlichen, ihre fast tierische Existenz in Horden und Banden; man vergleicht sie mit verwilderten Hunden, die von ihren Besitzern ausgesetzt worden sind. Jugendbanden kontrollieren praktisch heute die Straßen in einer Reihe von Städten an der Wolga. Diese Kinder rebellieren nicht nur gegen die Normen, die ihnen von den Erwachsenen auferlegt worden sind, sondern auch gegen das normale Alltagsleben überhaupt. Ihr Credo ist eine Bruderschaft der Zuchthäusler und ein romantischer Gewaltkult. Sie wollen „alles erleben“ und träumen vom Lager, in dem man schließlich auf den „Paten“ trifft, der einem die Geheimnisse des wirklichen Lebens auftut. Die Verachtung jeder Arbeit, die Verherrlichung von Gewalt und Geld - mehr braucht es nicht, um aus diesen Kindern und Jugendlichen Verbrecherbanden zu machen, die für die Mafia oder die inzwischen überall agierenden Erpresserbanden arbeiten. Stimmung am Abgrund

Fügt man zu dem oben Aufgezählten noch die nationalen Konflikte, die fast schon zu regionalen Bürgerkriegen ausgewachsen sind, hinzu, ferner die Schlangen, die für Seife oder Schulhefte anstehen, den um sich greifenden Hunger und den drohenden Zusammenbruch der eigenen geschichtlichen Identität - dann kann man sich ganz entfernt jenen fast endzeitlichen historischen Schrecken vorstellen, der große Teile der Bevölkerung erfaßt hat. Der Durchbruch zur schwierigen, doch unumgänglichen Wahrheit erzeugt einen schreienden Widerspruch im alltäglichen Leben des sowjetischen Menschen. Was sie in den Zeitungen erfahren, wird im wirklichen Leben negiert. Es ist kaum möglich, der Losung „Nicht nach der Lüge leben“ zu folgen in einer Umwelt, in der die etablierten Produktions- und Gesellschaftsbeziehungen fortexistieren und resistent bleiben gegen alle initiativreichen und unternehmerischen Naturen.

„In den letzten zwei, drei Jahren“, schreibt eine Leserin an die Zeitschrift 'Ogonjok‘, „leben wir alle buchstäblich ein Doppelleben. In den Zeitungen und Zeitschriften lesen wir über Perestrojka, hören die Aufrufe der führenden Leute des Staates und denken: Endlich ist es soweit. Wir glauben, daß jetzt alles anders wird und richten uns darauf ein, daß auch alle um uns herum sich geändert haben und daß wir andere geworden sind. Dieses Gefühl war besonders stark während der Arbeit des Kongresses der volksdeputierten ... Aber morgens gehen wir zur Arbeit oder in irgendeine Behörde, und dort ist alles wie früher, alle an ihrem Platz, sogar jene, die man schon lange kennt, und man kann nichts tun und, was noch wichtiger ist, man will nichts tun. Und probiere einmal, die Beamten zu kritisieren oder die Verhältnisse in deiner eigenen Organisation ..., oder schlage einfach vor, etwas zu ändern. Dann geht es los! Man stellt dich sofort in die Ecke, macht dich fertig und sagt dir, daß es am besten wäre, wenn du selbst 'auf eigenen Wunsch‘ verschwindest. Es ist, als ob die Zeitungen und all das gute, was man uns mitteilt und wozu man uns aufruft, sich im Traum abspielt, während in der Wirklichkeit alles bleibt wie es war.“

Der Albtraum wird zur Panik: Jeden Tag gibt es Horrormeldungen a la „Die letzten Tage von Pompeji„; der Alltag spielt sich ab inmitten der unerschütterlich dastehenden stalinstischen Strukturen, die bürokratische Maschine arbeitet hoch über den Bürgern, an deren faktischem Zustand als rechtlose Subjekte sich wenig geändert hat; die Maschine treibt das Land immer näher an den Abgrund einer allgemeinen Anarchie des Bürgerkriegs oder einer blutigen Diktatur. Das Gefühl der Angst löst die Euphorie der Anfangszeit der Glasnost ab.

Schockiert von der Vertiefung der Krise, von dem heftigen Widerstand gegen Änderungen und der wachsenden Aggressivität der Massen sind nicht bloß die Parteigänger der Perestrojka, sondern auch die „Experten“. Orientierungslosigkeit herrscht unter den Intellektuellen, die noch vor einem Jahr überzeugt waren, daß das „Marktmodell“ ziehen werde - so etwa Nikolaj Schmeljow und Leonid Abalkin. Die Kampagne gegen die Kooperativen - im Widerspruch zur Gesetzgebung und „auf Wunsch des Volkes“ - hat gezeigt, daßdie Etablierung normaler Wirtschaftsformen unvereinbar ist mit der Struktur der sowjetischen Gesellschaft. Es wurde klar: Man kann nicht einen Markt „einführen“, wie man unter Katharina II. die Kartoffel „eingeführt“ hat; man kann nicht die Demokratie dort „einführen“, wo noch der Begriff des „Faustrechtes“ im Stil des mittelalterlichen Novgorod herrscht. Sehnsucht nach der

„starken Hand“

Bei der fieberhaften Suche nach Rezepten, mit denen man Anarchie und Blutbad vermeiden könnte, nehmen die Publizisten und Politologen Zuflucht zu Konzeptionen der „aufgeklärten Diktatur“. Andronik Migranjan, von Haus aus Politologe, hält in einem in 'Novyj mir‘ veröffentlichten Aufsatz die Schaffung eines „Komitees der nationalen Rettung“ für nötig („Der lange Weg zum europäischen Haus“, in: 'Novyj mir‘ 7/1989). An der Spitze soll ein Diktator stehen, der mit Unterstüzung des Volkes die Anrchie und die Vertiefung der Krise abwenden und die Willkür der Bürokratie und der örtlichen Behörden beschränken soll. Bezugnehmend auf die Erfahrung anderer Staaten, zeigt Migranjan, daß es unmöglich ist, auf direktem Wege vom Totalitarismus zur Demokratie zu gelangen. In einer Übergangsperiode des „aufgeklärten Absolutismus“ mit einem charismatischen Führer an der Spitze müsse erst die soziale Basis für die Demokratie geschaffen werden: die Elemente des Marktes und der bürgerlichen Gesellschaft, die dann allmählich staatliche Funktionen übernehmen sollen. Das einzige, was Migranjan in seiner Argumentation nicht in Rechnung stellt, ist die Einzigartigkeit der sowjetischen Zivilisation. Gesellschaft ohne Struktur

Das klassische autoritäre Regime als Allheilmittel erscheint weniger überzeugend auf dem Hintergrund einer anderen Analyse, die der aus Woronesch stammende Jewgeni Starikow vorgelegt hat. Sie trägt den Titel „Marginale - oder Überlegungen zu dem alten Thema: Was geht mit uns vor?“ (in 'Znamja‘ Nr. 10/1989). Starikow kommt in seiner Analyse der Änderungen in der Klassenstruktur und des Modernisierungsprozesses in der Nachrevolutionszeit zu dem Schluß, daß die sozialen Hauptklassen einem Prozeß der Marginalisierung unterworfen worden seien. Das Hauptkennzeichen dieser Marginalisierung sei der Verlust der ökonomischen, sozialen und geistigen Bindungen, die eine stabile Struktur ermöglichen. Die Auflösung der Klassen, die Deklassierung tritt als Verschwinden eines klassen- und schichtenspezifischen Selbstbewußtseins und Ethos, als Verlust des Arbeitsethos und folglich überhaupt aller moralischen Maßstäbe in Erscheinung. Eine gewaltige Anzahl von Leuten, die man unter dem formalen Gesichtspunkt der Berufszugehörigkeit zu Klassen oer sozialen Schichten zusammenfassen würde, sind unter dem Gesichtspunkt ihrer wirklichen Beziehungen keine. Mit anderen Worten: die sowjetische Arbeiterklasse hat mit der Arbeiterklasse westeuropäischen Typs, mit ihrer Moral der Klassensolidarität und ihren Arbeitsgewohnheiten nur wenig zu tun, ebensowenig mit dem ostmitteleuropäischen, der in der Zeit des Sozialismus zwar seine Klasseneigenschaften etwas eingebüßt, dafür aber im politischen Kampf der letzten Jahre ein neues Selbstverständnis und neues Profil gewonnen hat. Die sowjetische Arbeiterklasse, so Starikow, ist wesentlich eine „Klasse an sich“, die ihre Interessen noch nicht bewußt artikuliert und sie nicht verteidigt. Die Arbeiterklasse ist gespalten, je nachdem, welchem Ministerium und Industriezweig sie angehört (Bergbau, Eisenbahn, Ölindustrie etc.), und konkurriert untereinander um elementare Güter wie Wohnungen und Lebensmittel; sie tut dies mittels „informeller Beziehungen“ zur Bürokratie.

Ähnliches gilt für die Bauernschaft und die Intelligenz. Prozesse der Marginalisierung, die die nachrevolutionäre Gesellschaft durchzogen haben, beschleunigen sich. Die wichtigsten Konsequenzen sind: negative soziale Auslese, Diebstahl und Korruption auf allen Ebenen, verächtliche Haltung gegenüber der Arbeit und die Auffassung, Lohn sei das Äquivalent für das Absitzen der Arbeitszeit. Die Losung der Marginalisierten lautet: „Egal wo du arbeitest, du brauchst doch nicht zu arbeiten.“ Im Grunde parasitieren alle diese Leute von jenen wenigen qualifizierten und engagierten Areitern, die noch in der Produktion verblieben sind. Die Marginalen unterteilt Starikow in drei Gruppen:

1. Die sogenannten „Schneeglöckchen“ - Leute, die als Arbeiter klassifiziert sind, aber faktisch im „Leitungsapparat“ beschäftigt sind (Parteiarbeiter, „Künstler“, Chauffeure, Bademeister in den Saunen der Nomenklatura usf.). Insgesamt gibt es im Land vier bis fünf Millionen „Schneeglöckchen“, die man der Gruppe der Arbeiter im Leitungsapparat mit seinen 18 Millionen Menschen zuschlagen muß.

2. Weiter verbreitet ist der Typ des „raffenden Schwerarbeiters“. Seine Arbeit ist schwer und hat wenig Prestige. Daraus leitet er Ansprüche auf hohe Bezahlung ab, auch wenn er schlechte Arbeit leistet. Als Folge davon werden die qualifizierten Arbeiter, die Spezialisten mit besserer Ausbildung, schlechter bezahlt, während die wenig qualifizierten Arbeiter relativ gut entlohnt werden. Das führt zu dem Paradox, daß Millionen von „raffenden Schwerarbeitern“ an der Erhaltung schwerer physischer Arbeit interessiert und tendenziell gegen jede Modernisierung eingestellt sind.

3. Die „Arbeiteraristokratie“ - das ist der Typus des korrumpierten und schmarotzerhaften Ex-Arbeiters, meist der Betriebsverwaltung zugehörig und vorwiegend in der Sphäre der „gesellschaftlichen Aktivität“ tätig.

Zu den marginalen Gruppen zählt der Autor ebenso einen Teil der Jugend, der Frauen, der Rentner und Invaliden. Ein typisches Beispiel für die Gruppe der Marginalen sind auch die sogenannten „Angestellten-Nichtspezialisten“, im wesentlichen Frauen. Sie führen Arbeiten aus, die keine besondere Qualifikation voraussetzen und ein Riesenheer von Scheinaktivisten bilden - Kuriere, Expediteure, alle möglichen Kontrolleure usf. Sie machen bei der Stadtbevölkerung rund 7 Prozent aus und ihr Gehalt ist höher als das der Intelligenz. Ein niedriges intellektuelles Niveau, Verachtung jeglicher physischen und intellektuellen Arbeit sind die besonderen Züge dieser ziemlich großen Gruppe der Stadtbevölkerung.

Groß ist ebenfalls der Teil der Frauen, die in Nachtschicht arbeiten (3,7 Millionen) und schwere physische Arbeiten ausführen, die Männer nicht übernehmen. Zusammen mit den „Limitschiki“ (den Arbeitern, die, um eine Zuzugsgenehmigung in der Hauptstadt zu bekommen, jede beliebige Arbeit übernehmen, die aber, sobald sie sich „etabliert“ haben, sich um eine bessere Arbeit bemühen) sind sie so etwas wie sowjetische Gastarbeiter, mit dem Unterschied, daß der Ausstieg aus der schweren körperlichen Arbeit für Frauen viel schwieriger ist.

Eine besonders dramatische Situation hat sich mit der sozialen Integration der Jugend ergeben. Die Diskriminierung der „Provinz“ in den Hauptstädten und des „Dorfes“ in den Städten, eine wenig qualifizierte Berufsausbildung, der demoralisierende Einfluß der Armee und bestimmter Randgruppen der erwachsenen Bevölkerung (darunter auch ehemaliger Krimineller) bringt einem Großteil der ins Berufsleben eintretenden Jugendlichen Haß auf die Arbeit bei und nährt von Kindesbeinen an den Wunsch, in der nichtproduktiven Sphäre eine Stelle zu finden. Sie wollen dort einen Arbeitsplatz haben, wo man wenigstens an der „Quelle“ sitzt, irgendwo in der Verteilungssphäre, wo man etwas für sich abzweigen kann.

Es ist schwer zu sagen, welchen Anteil die marginalen Gruppen an der Gesamtbevölkerung haben. Wenn man sich auf die von E. Starikov gegebenen Daten stützt, dann beträgt die Zahl an die 40 Millionen Menschen. Das von Starikov entwickelte Schema hat daher nur noch wenig zu tun mit der traditionellen Einteilung gesellschaftlicher Gruppen, wie wir sie aus dem modernen Kapitalismus kennen. Sie hat auch wenig gemein mit der Sozialstruktur der meisten sozialistischen Länder, die heute in der Krise und am Vorabend der Reformen stehen (Ungarn, Polen oder China). Man hat es zu tun mit einer in ihrer Art einzigartigen Zivilisation der Marginalisierten. Im Grunde, so Starikov, gibt es keine soziale und Klassenstruktur, sondern zwei sich gegenüberstehende Blöcke:

1. Die politisch und ökonomisch aktive Minderheit in allen Schichten der Bevöklerung (einschließlich Bürokraten, Arbeiter, Bauern), die an der freien Verwirklichung ihrer beruflichen und kulturellen Möglichkeiten im Rahmen einer bürgerlichen Rechtsgesellschaft interessiert sind.

2. Die auf die verschiedensten Gruppen von deklassierten Elementen sich stützende Nomenklatur-Bürokratie (Anti -Elite), die an der Erhaltung des Systems der freien Umverteilung der Güter interessiert ist.

Mit anderen Worten: die marginalen Gruppen sind die soziale Hauptbasis des existierenden Machtsystems, während „Bürger“ nur in geringem Maße in den „Korridoren der Macht“ vertreten sind und ungeachtet des Lärms um die Perestrojka immer aktiver aus der Sphäre der Entscheidungen verdrängt werden, besonders auf der mittleren Ebene. Die Marginalen, unterstreicht der Verfasser des Aufsatzes, stellen den Resonanzboden für Umverteilungsideen und für die Suche nach Sündenböcken und Feinden. Man darf sich über das Gewicht der Ideologie von „Pamjat“ nicht täuschen lassen, nur weil sie so armselig und absurd erscheint. Die Erfahrung des Nationalsozialismus zeigt, daß in einer allgemeinen Krise sich leicht Millionen finden, die einem Häuflein verrückter Extremisten hinterherlaufen werden. Die Alternative bürgerliche Gesellschaft oder Faschismus - ist eine objektive Realität in der heutigen Situation. Letzterer hat, so meint der Autor, beträchtlich höhere Chancen. Empörung und Angst

In höchstem Maße nervös reagiert auch der bekannte Perestrojka-Publizist Andrej Nujkin in seinem „Offenen Brief an alle Bürokraten, korrupten Elemente, Vetternwirtschafter, Falken des militärisch-industriellen Komplexes, Agenten der Schattenökonomie, Mafiosi und andere Taugenichtse“ (in: 'Ogonjok‘ Nr. 40/1989). Dieser Text ist ein einziger Aufschrei aus rasender Wut und Ironie. Der Autor macht aus seinem Haß auf die ganze Klasse der Bürokraten kein Hehl. Nujkin warnt in flammenden Worten die mit dem Kampf um die Macht und ihrem Lebensgenuß beschäftigten Bürokraten, sie selbst würden durch ihren Klassenegoismus und ihre Kurzsichtigkeit in den Abgrund stürzen - und das ganze Volk und die ganze Welt mit sich fortreißen. Die Nomenklatura, schreibt Nujkin, wartet nur auf den Augenblick des Militärputsches. Doch sie werde selbst, so der Autor, das erste Opfer des Volkszorns werden, wenn seinen Forderungen nicht Genüge getan wird. Die Schwäche einer möglichen Militärdiktatur, die unfähig zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung sei, werde sie zwingen, führende Köpfe der Bürokratie zu opfern und Schauprozesse gegen die Repräsentanten der korrupten und räuberischen Schicht zu organisieren, um die Ruhe wiederherzustellen. Die Verbrechen der Bürokratie sind so unzählig wie ihr Glaube daran, sie würden auf Ewigkeit straflos ausgehen. Doch, so fügt Nujkin hinzu, diese in mehr als 70 Jahren gewachsene falsche Selbstsicherheit werde der Bürokratie nur einen Bärendienst erweisen. In gewissen Safes lägen die Dossiers über die Nomenklatura und früher oder später würden sie sich vor dem Gericht des Volkes verantworten müssen.

In der UdSSR gebe es 2,3 Prozent Familien, die als reich, und 86,5 Prozent, die als arm bezeichnet werden können. Dies bedeute, daß das ganze Land sich nicht sattessen können und kranke Kinder in Kliniken, die jeder Beschreibung spotten, zur Welt bringe, nur damit die herrschende Clique in Spezial -Villen ökologisch reine Gurken- und Kaviar-Sonderrationen zu essen bekomme. Es bedeute ferner, daß die Vernichtung des Aral-Sees, die Existenz von Tausenden von in Barracken lebenden Bergarbeitern einzig dazu dienen, eine ägyptische Pyramide der Macht von gerissenen Dieben ohne Gewissen und Ehre am Leben zu erhalten. Auch ihnen droht Nujkin mit geballter Faust und schon nicht mehr allein an ihr Gewissen, sondern an ihren gesunden Menschenverstand appellierend. Angst und Haß, das Gefühl der Ohnmacht und ökologische Horror-Visionen haben sich in diesem hilflosen Schrei zusammengefunden; es klingt wie der Schrei eines Menschen, der am Rande des Abgrunds stehend versucht, im letzten Moment mit Zauberformeln zu bannen, was unabweislich eintreten wird. Szenario: Moskau 1993

Was ist das, was da unausweichlich kommen soll? Die Publizistik kann darauf nicht antworten. Das Genre selbst und ihre gesellschaftliche Aufgabe erlauben es ihr nicht, die Begriffe „Chaos“ oder „Militär-Diktatur“ zu konkret auszumalen. Doch was der Publizistik versagt ist, leisten andere, sozusagen „freiere“ Genres - wie die Belletristik und Science-Fiction-Literatur.

Die Handlung eines noch 1988 von Alexander Kabakow geschriebenen Kino-Szenarios Der Mann, der nicht zurückkehrt (abgedruckt in 'Iskusstvo Kino‘, 1989, Nr.6) spielt im Moskau des Jahres 1993. Der Held der Erzählung arbeitet in einem Institut als „Extrapolator“, d.h. als Spezialist für die gedankliche Konstruktion der Zukunft. Die Mitarbeiter einer wichigen Organisation, anscheinend des KGB, schicken ihn auf Dienstreise in eine nicht ferne Zukunft, um die sich entwickelnden Kräfteverhältnisse aufzuklären.

Der Held schaltet im Moskau des Jahres 1993 in einer kalten Winternacht sein Transistorradio ein. „Gestern hat“, teilt der Sprecher mit, „im Kreml der Erste Außerordentliche Konstituierende Kongreß des Russischen Verbandes der Demokratischen Parteien seine Arbeit aufgenommen. An der Arbeit des Kongresses nehmen die Delegierten aller politischer Parteien Rußlands teil. Als Gäste sind auf dem Kongreß die ausländischen Delegationen der Christ -Demokratischen Parteien des Transkaukasus, die Sozial -Fundamentalisten Turkestans, die Konstitutionelle Partei der Vereinigten Emirate Buchara und Samarkand, der katholischen Radikalen der Baltischen Föderation, ebenso der Linken Kommunisten Sibiriens (Irkutsk) anwesend. Am ersten Tag des Kongresses hielt der Sekretär und Präsident des Vorbereitungskomitees, der General Wiktor Andrejewitsch Panajew, einen Vortrag. Und nun weitere Meldungen des Tages. Gestern haben im Persischen Golf unidentifizierte Flugzeuge die Karawane der den USA gehörigen Friedensschiffe mit Atomwaffen bombardiert. Die Schiffe fuhren zwar unter neutraler polnischer Flagge, doch die Klerikal-Faschisten haben sich dadurch nicht aufhalten lassen. Die Weltöffentlichkeit unterstützt entschieden die friedliebenden Kräfte.“

Der Held schaltet den Empfänger aus. Auf der Straße gehen Leute mit kleinen Rucksäcken umher, jeder hat in seinem Mantel ein Maschinengewehr versteckt. Explosionen sind zu hören. Auf den menschenleeren Straßen sind überall die Schrecken verbreitenden Trupps der „Herstellung der Ordnung“ unterwegs. „Afghanen“ (Veteranen aus dem Afghanistan-Krieg), Ljubery (Schlägerbanden aus einem Moskauer Vorort), Banden mit dem Namen „Suite des Teufels“, „Eckensteher“, „Heilige Selbstverteidigung“, die, wie man annehmen muß, aus den heutigen informellen Gruppen hervorgegangen sind. Sie rechnen mit allen ab, die ihrem Programm zufolge liquidiert werden sollen. Rocker, Juden und so weiter. Doch auch die Kommission der Nationalen Sicherheit ist unterwegs, um in Übereinstimmung mit dem Staatsplan zur „Ausgleichung“ der Gesellschaft wohlhabendere Mitglieder der Gesellschaft festzunehmen. „Sie umstellten das Haus binnen einer Minute. Alle trugen Uniform... Eine Abteilung betrat das Haus... Und die Tür wurde geöffnet, die Leute zeigten sich. Die Männer waren alle einheitlich in grauen Mänteln und Pelzmützen, sie trugen flache Köfferchen. Die Frauen waren in Pelzen oder Halbpelzen aus Lammfell. Die Kinder und Jugendlichen gingen in Anoraks, ohne Mützen... Es waren ungefähr Hundert. Einer von ihnen, der die Operation leitete und sich durch seine Kleidung nicht von den aus dem Haus Abgeführten unterschied, ging an die Spitze des Zuges und sagte leise: Auf Sondervorordnung der Moskauer Abteilung des Russischen Bundes der Demokratischen Parteien erkläre ich, der Vorgesetzte der Ditten Abteilung des ersten Frontabschnittes der Kommission für Nationale Sicherheit, Geheimrat Smirnow, Sie, die Bewohner des Hauses sozialer Ungerechtigkeit, Nummer 83 entsprechend dem Plan für radikale politische Ausgleichung, für Feinde der radikalen Ausgleichung, und in dieser Eigenschaft für aufgehoben. Das Gesetz über Ihre Aufhebung ist beschlossen worden auf der Versammlung der informellen Kämpfer für die Ausgleichung des Stadtteils Presnja.“

An der Türe des versiegelten Hauses, sah der Held, der unfreiwillig Zeuge der Liquidierung dieser Gruppe von Menschen wurde, das Täfelchen: „Bürokratenfrei. Besiedlung verboten.“

Der Extrapolator, der durch die winterlichen Straßen Moskaus irrt, wird von der Organisation „Revolutionäres Komitee Nord-Persien“ (offensichtlich Aserbajdschan) als Geisel genommen, und entgeht nur durch ein Wunder dem Tod. Dann gerät er in ein nächtliches underground-Cabaret, Spelunke und Anlaufstelle des KGB in einem, das an das Orwellsche Cafe „Under chestnut tree“ erinnert. Auf dem Weg nach Hause beobachtet er, wie das Puschkin-Denkmal gerade wieder aufgerichtet wird, nachdem dort eine Bombe, die offenbar von Kämpfern des „Stalinschen Verbandes der Russischen Jugend“ geworfen worden war, detoniert war. Es stellt sich heraus, daß die mehrmaligen Attentate auf das Denkmal des Dichters von Stalinisten ausgeführt werden, und zwar weil er gegenüber dem Zaren unbotmäßig und in seinen privatesten Verhältnissen amoralisch gewesen war und zudem nichtslawische Vorfahren hatte. „War er etwa kein Jüdchen?“ wundert sich eine zufällige Weggefährtin des Helden. Gleichsam zur Bestätigung dieser Frage fallen „Ritter“ in schwarzen Leibchen und mit Keulen bewehrt über eine Gruppe von Passanten her, die an der Stelle, wo heute die Redaktion von 'Moscow News‘ untergebracht ist, Zeitung lesen, bilden einen Kreis, um zu prüfen, ob sie auch alle slawischer Herkunft seien. Jud... Jud... noch ein Jud, so, ein getaufter, ein Nichtbeschnittener, raus mit Dir, Jud, Jüdin, Russin? Zeig mal, ob du dasIgorlied lesen kannst! Viel weißt du nicht, lügst, also stehen bleiben, Jud, Jud, Jud.“

Es wird Morgen. Von der Straße, die zum jetzigen ZK-Gebäude führt, prescht eine Reiterkavalkade herbei: sieben Reiter in keilförmiger Anordnung, auf sieben gleichen Rossen, in weißen Halbpelzen, dahinter ein einzelner Panzer... General Panajew beginnt seinen Arbeitstag. Aus dem Lautsprecher auf dem Platz wird eine Erklärung verlesen:

-Zur Information des wartenden Publikums! Heute kommen im Zentral-Basar zum Verkauf: Jak-Fleisch, das Kilogramm für 70 Gutscheine; Sago-Mehl, das Kilogramm zu 12 Gutscheinen, gewöhnliches Bürger-Brot für 10 Gutscheinen pro Kilo, Produktion Gemeinsamer Markt je Kilo, Damen-Winterstiefel für 600 Gutscheine, US-Ware - insgesamt 400 Paare. Teilnehmer der Ereignisse des Jahres 92 und Kämpfer Ersten Ranges für die Ausgleichung haben Anrecht auf den Erhalt aller Waren - mit Ausnahme der Stiefel - außer der Reihe. Herrschaften halten sie die Schlangen ein!“

Die utopische Parodie Alexander Kabakows ist nicht nur ein Hybrid aus George Orwell und Michail Bulgakow - es werden darin vor allem einige politische Ideen, die gegenwärtig in der sowjetischen Gesellschaft kursieren, ins Absurde verlängert: die Idee von der „Gleichheit in Armut“, die faschistische Konzteption von „Pamjat“ und der nationalen Wiedergeburt der nichtrussischen Völker. Das irrsinnige Bild von einem Moskau unter einer „demokratischen Diktatur“ ist deshalb so erschreckend wirklichkeitstreu, weil sehr viele charakteristische Züge des russischen Nationalcharakters und die mit Puschkin einsetzende geschichtsnotorische Angst vor dem „russischen Aufstand“ zitiert werden. Die Sowjetgesellschaft in ihren eigenen Begriffen denken

Einer der Hauptvorzüge des Aufsatzes von Starikov ist, daß deutlich wird, daß die sowjetische Gesellschaft sich nicht in den gängigen und überlieferten Begriffen von Klasse, Gesellschaft etc. beschreiben läßt. Angesichts dessen erscheint es problematisch, sie automatisch dem „gemeinsamen europäischen Haus“ zuzuschlagen. Das Reden von der UdSSR als von einem Entwicklungsland in Europa, dem man nur materielle Hilfe geben müsse, oder die Rede von der bürgerlichen Gesellschaft in der UdSSR stützt sich auf ideologische Schemata, nicht auf eine Realität. Diese Besonderheit der sowjetischen Zivilisation ist wie auch früher schon die Ursache dafür, daß sich absolut nicht vorhersagen läßt, was in nächster Zeit sich ereignen wird. In Moskau indes gehen Gerüchte von einem bevorstehenden Ausnahmezustand. Ob er „aufgeklärt“ sein wird, wie Migranjan denkt, oder nicht das wird sich zeigen.

Je mehr die sowjetische Gesellschaft über sich nachdenkt, desto deutlicher wird auch, daß die Begriffe, in denen sie sich bisher dachte oder von außen gedacht wurde, nicht angemessen sind: „Arbeiter“, „Intelligenz“, „Bürokratie“, „Demokratie“, „Markt“ etc. etc. - das alles sind Hilfsbegriffe, die eher verdecken, als daß sie etwas beschreiben und erklären helfen. Sie spielen eine Rolle innerhalb des ganzen betriebsmäßigen Perestrojka-Bla-Blas und innerhalb der professionellen Sowjet-Orakelei. Für das Verständnis dessen, was sich in der UDSSR abspielt, sind sie völlig bedeutungslos.