Wiedervereinigung?

Von den Schwierigkeiten, ein Deutscher zu sein  ■ G A S T K O M M E N T A R

Als ich wenige Tage vor dem Bau der Mauer die DDR verließ, war mir eins klar: Du gehst nicht ins „Exil“, du gehst in eine andere Staatsform, nicht aber in ein anderes Land. Für einen Sozialisten ist die Frage des Staates unzweideutig: Je mehr die Menschwerdung voranschreitet, die selbstbestimmte Tätigkeit des Menschen in der Gemeinschaft, um so mehr wird der Staat in einem Verbrüderungsprozeß absterben.

Der sozialistische Standpunkt versucht im methodischen Ansatz die historischen und gesellschaftlichen Verneblungen zu durchschauen und nicht vor dem Nebel davonzurennen. Ein Großteil der heutigen linken Strömungen ist der nationalen und der europäischen Frage gegenüber blind. Von Hölderlin bis Marx waren dies zentrale Probleme. Ist dieser Komplex geschichtlich und gesellschaftlich aufgehoben?

Die USA wünschten sowenig eine deutsche Wiedervereinigung wie die Sowjetunion. Wünschen es überhaupt noch die Deutschen? Das ist beileibe nicht sicher. Adenauer und die CDU/CSU trieben jahrzehntelang Separatismus. Amerikanisierung und Russifizierung sind vorangeschritten, aber nicht die Wiedergewinnung eines realen Geschichtsbewußtseins der Deutschen. Die Spaltung unseres Landes führt, gerade weil die Linke in dieser Frage keine geschichtliche Kontinuität aufrechterhalten hat, notwendigerweise in die Zerstörung der dialektischen Spannung von sozialer und nationaler Frage, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv.

Unter solchen Bedingungen fängt der links orientierte Deutsche an, sich mit allem möglichen zu identifizieren, aber einen Grundzug des Kommunistischen Manifests zu ignorieren: Der Klassenkampf ist international, in seiner Form aber national. Die Bourgeoisie im Westen und die Monopolbürokratie im Osten versuchen, den Arbeitern, Werktätigen, Studenten immer wieder einzureden, wo „Sozialismus“ und wo „Freiheit“ ist. Diese Verneblung zu durchbrechen, zur konkreten Wahrheit vorzustoßen, ist die erste Voraussetzung, um Identität und Geschichte zurückzugewinnen.

Rudi Dutschke (1940-1979) Aus: Aufrecht gehen, Verlag Olle und Wolter, 198