Alle Soldaten sind gemeint

Die Urteilsbegründung aus dem Prozeß gegen einen Arzt, der für seine Behauptung: „Alle Soldaten sind potentielle Mörder“, freigesprochen wurde  ■ D O K U M E N T A T I O N

Das Frankfurter Landgericht hat die scharfe Kritik an einem Urteil entschieden zurückgewiesen, welches die Einstufung von Soldaten als „potentielle Mörder“ in einem besonderen Fall straflos ließ. In einem 'Spiegel'-Interview sagte der Richter Heinrich Gehrke, er sei „erschüttert“ darüber, „wie offizielle Stellen reagieren, ohne überhaupt Kenntnis genommen zu haben, was wirklich geurteilt worden ist“. Deshalb habe er die mündliche Urteilsbegründung ausnahmsweise schriftlich erstellen lassen, „damit sich die Herrschaften in Bonn ein wenig informieren können“.

Von einem Angriff gegen die Menschenwürde der Soldaten könnte nur dann gesprochen werden, wenn diese im Kern ihrer Persönlichkeit getroffen und ihnen grundsätzlich der Anspruch auf gleichberechtigte Teilnahme am Leben der Gemeinschaft abgesprochen worden wäre. (...)

Keine der Äußerungen des Angeklagten war in diesem Sinne gemeint oder konnte so verstanden werden. Die Beweisaufnahme hat gezeigt, daß er - auf die Soldaten bezogen - stets deutlich gemacht hat, daß diese nach seiner Meinung durch entpersönlichten Drill und die moderne Waffentechnologie im Kriegsfall zu Mördern werden könnten, ohne daß sie sich das jemals hätten vorstellen können. Das soll auf eine schicksalhafte Zwangslage hinweisen, die geradezu zur logischen Voraussetzung hat, daß die betroffenen Personen nicht als ohnehin mordbereit - also moralisch minderwertig - angesehen werden. Aus dem Gesamtzusammenhang des Diskussionsbeitrages von Herrn Dr. Augst ergibt sich eindeutig, daß er mit der Charakterisierung der Soldaten als potentielle Mörder diese nicht aus der Gemeinschaft unseres Staates ausgrenzen, sondern sie zum Nachdenken über ihre Situation veranlassen wollte. (...)

Es entfällt aber nach dem Ergebnis der Beweisaufname auch eine Verurteilung wegen Beleidigung. Zwar liegt nach Meinung des Gerichts der objektive und subjektive Tatbestand des Paragraphen 185 StGB vor, doch ist dies nicht strafbar, weil Herr Dr. Augst in Wahrnehmung berechtigter Interessen im Sinne von Paragraph 193 StGB gehandelt hat. (...)

Nach den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten, im einzelnen durchaus umstrittenen Grundsätzen über die Möglichkeit der Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung kommen zwar an sich hier auch die einzelnen Bundeswehrsoldaten als in ihrer Ehre Verletzte in Betracht, doch müßten dann - so heißt es in dem für die Kammer maßgeblichen Revisionsurteil - „die Äußerungen des Angeklagten (...) so auszulegen sein, daß sie nicht allgemein auf Soldaten, sondern gerade auf die Soldaten der Bundeswehr bezogen waren und auch alle Mitglieder (dieser) Personengruppe betreffen sollten“. In seinem Diskussionsbeitrag hat Dr. Augst jedoch mehrfach und unmißverständlich deutlich gemacht, daß er mit seiner Bezeichnung „potentielle Mörder“ alle Soldaten meinte, ganz gleich ob sie solche der US- oder der Roten Armee, der Volksarmee oder der Bundeswehr seien. (...)

Die Bewertung „Mörder“ beziehungsweise „morden“ (...) ist als Mahnungsäußerung klar erkennbar und einer beweismäßigen Prüfung nicht zugänglich; auch der Angeklagte räumt ein, daß andere - zum Beispiel die Soldaten selbst - dieselben Umstände anders bewerten können. (...)

Die ehrverletzenden Äußerungen von Herrn Dr. Augst sind jedoch nach Paragraph 193 StGB nicht strafbar, weil sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht wurden.

Im vorliegenden Fall stand der Ehranspruch der Verletzten dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gegenüber. Unter den speziellen Umständen, wie sie in der Beweisaufnahme festgestellt werden konnten, ist hier Artikel 5 GG der Vorrang einzuräumen.

Maßgeblich hierfür waren folgende Gesichtspunkte:

1. Die Meinungsäußerungsfreiheit ist, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, für unsere freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, weil erst die ständige geistige Auseinandersetzung den Kampf der Meinungen ermöglicht, der das Lebenselement dieses Staates ist.

2. Je mehr Bedeutung eine diskutierte Angelegenheit für die Allgemeinheit hat, um so eher ist dem Schutz der freien Meinungsäußerung der Vorrang zu geben. Bei der Podiumsdiskussion ging es um Themen wie „Friedenssicherung“, „Nuklearbewaffnung“, „Nachrüstung mit neuen Atomraketen“ und „Folgen eines Nuklearwaffeneinsatzes in Mitteleuropa“. Dies sind alles Bereiche mit existentieller Bedeutung für alle Menschen, die Meinungen prallen hier stets - und ganz besonders damals zur Zeit des Nato-Doppelbeschlusses und der Opposition der Friedensbewegung dagegen - hart aufeinander. (...)

4. Die Äußerungen von Herrn Augst auf dem Podium fielen nicht isoliert, sondern innerhalb einer Gesamtdarstellung, aus der hervorging, aufgrund welcher Umstände er und die von ihm vertretene Gruppierung zu der harten Bewertung soldatischer Ausbildung und Aufgabenstellung im Krieg gelangt waren. (...)

6. Der Angeklagte wollte mit seinem Diskussionsbeitrag zur Meinungsbildung unter den Schülern beitragen. Dazu durfte er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angesichts der heutigen Reizüberflutung aller Art auch einprägsame, harte Formulierungen benutzen, selbst wenn sie die davon Betroffenen in ihrer Ehre herabsetzten. Bei der bedeutsamen Thematik, (...) bei seiner auf den vorgestellten Umständen beruhenden und von ihm dargelegten Überzeugung vieler Menschen, daß der Abschuß von Massenvernichtungswaffen schon wegen der unkontrollierbaren Tötung von Zivilbevölkerung moralisch nicht zu rechtfertigen sei und daß die Ausbildung der Soldaten dazu ein Erlernen von ethisch verwerflichem Töten sei, erscheinen die Äußerungen, daß jeder Soldat ein potentieller Mörder sei (...) sowie die Bundeswehr zum Morden ausbilde, nicht als so weit überzogen, daß sie in einer solchen Situation im politischen Meinungskampf - und um einen solchen handelte es sich hier - nicht mehr straflos hingenommen werden könnten. In einer Zeit, in der ein deutscher Bischof ungestraft jede

-auch nach unseren Gesetzen zulässige - Abtreibung als Mord bezeichnen darf, erscheint die von Herrn Dr. Augst verwendeten Begriffe nicht als so außergewöhnlich ehrverletzend, als daß sie in einer Podiumsdiskussion über die „nukleare Komponente der Sicherheitspolitik“ unter den geschilderten Besonderheiten aus dem Gesichtspunkt des Artikels 5 GG nicht mehr gerechtfertigt sein könnten. (...)

Nur angemerkt sei schließlich noch, daß in Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen von der Rechtsprechung (...) gerade verlangt wird, daß der die Anerkennung Begehrende vorträgt, er halte - ich zitiere aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1971 - „die Ableistung des Kriegsdienstes mit der Waffe als eigene Teilnahme an einem Verbrechen“ für besonders sittlich verwerflich, ohne daß dieser Vortrag jemals als Beleidigung der Bundeswehr erachtet worden wäre. Nach all dem mußte die Kammer das schöffengerichtliche Urteil aufheben und den Angeklagten freisprechen. (...)

Das Gericht ist sich bewußt, daß sein Urteil bei vielen auf Ablehnung stoßen wird. Gegen bösartige Kritik und absichtliches Mißverstehen, wie sie uns in diesem Verfahren schon so reichlich zuteil geworden sind, ist kein Kraut gewachsen, damit müssen wir leben. Diejenigen aber, die zuhören können und nachdenken wollen, bitten wir herzlichst, die von uns genannten Argumente ruhig zu prüfen. Das muß nicht zu einer Zustimmung führen, aber vielleicht wenigstens zu der Anerkennung, daß wir uns unsere Aufgabe nicht leicht gemacht haben. Dieses Urteil hat (...) keine präjudizielle Bedeutung, die Benutzung derselben Ausdrücke in anderer Situation oder zu anderen Zwecken kann durchaus strafbar sein. (...) Meine Hoffnung ist es, daß künftig derartige Auseinandersetzungen zwischen ernsthaften und vernünftigen Menschen und Institutionen wieder dorthin verlagert werden, wo sie im Interesse unserer lebendigen Demokratie hingehören: in die Ebene fruchtbarer Gespräche und Diskussionen, weg von den Gerichten.