„Vater unser, Revolutionär, Gott der Unterdrückten“

Brasiliens Kirche scheute sich nicht, sich gegen die Diktatur zu stellen / Heute herrscht Demokratie, und der Vatikan will die stärkste Landeskirche der westlichen Welt in ihre Schranken weisen Gedenkgottesdienst für einen erschossenen Arbeiter  ■  Aus Sao Paulo Thomas Schmid

Eine Messe wird in der Kirche Nossa Senhora da Consolycao (Mutter Gottes des Trostes) im Zentrum von Sao Paulo jeden Sonntag gelesen - wie andernorts auch, vor halbleeren Bänken. Doch heute ist das im neugotischen Stil gebaute Gotteshaus im Geschäftsviertel der brasilianischen Metropole brechend voll. Von den Marmorsäulen prangt das Foto eines Arbeiters. Den Blick zum Tabernakel versperrt ein Transparent „Zehn Jahre Kampf, zehn Jahre Hoffnung“: Im Kirchenschiff ein Dutzend weiterer Spruchbänder. „Vor zehn Jahren“, hebt der Mann unten im Scheinwerferlicht an, „wurde in dieser Kirche der Kollege Santo dias da Silva von uns allen beweint. Er wurde am Fabriktor von der Polizei auf unverständliche und feige Art erschossen.“

Der da spricht, ist der Erzbischof der größten Stadt Südamerikas, Kardinal Dom Paulo Evaristo Arns höchstselbst, umgeben von weiteren Bischöfen und Priestern. Der Würdenträger berichtet von der Militärdiktatur und von den Kämpfen der Arbeiter und davon, wie die Militärpolizei 1979 die Kirche Nossa Senhora da Consolacao stürmte, in der sich die Metaller versammelt hatten. Die Gemeinde antwortet im Chor, vom Blatt lesend: „Wir sind hier, um den Weg einer Arbeiterklasse zu feiern, die dabei ist, ihre Geschichte zu entwerfen, auf der Suche nach Leben, Arbeit und Würde. Der Kollege Santo gab uns hierin ein Beispiel, und deshalb kämpfen wir.“ - „Unser Kollege Santo kämpfte dafür“, setzt der Kardinal wieder ein, „daß die Welt des Profits, der Konkurrenz und der Akkumulation, die das Kreuz der Arbeiter sind, durch die Werte des Evangeliums ersetzt werden“, und dann berichtet er von „Jesus und all jenen, die für eine neue Welt gestorben sind“. Wieviele es in Brasilien während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) waren, hat der streitbare Erzbischof von Sao Paulo in einer umfangreichen Dokumentation zusammenstellen lassen.

Daß ein Kardinal einem erschossenen Arbeiter eine Gedenkmesse liest, kann in Brasilien niemanden ernsthaft überraschen. In keinem Land Lateinamerikas hat die Theologie der Befreiung mit ihrer „vorrangigen Option für die Armen“ auch nur annähernd so tiefe Wurzeln geschlagen wie in Brasilien. Etwa 150.000 im sozialen Bereich engagierte Basisgemeinden dürfte es heute landesweit geben. Und wie die Kirche vor zehn Jahren die Metaller Sao Paulos in ihrem Kampf gegen die Diktatur unterstützte, so unterstützt sie heute über ihre „ländlichen Pastroalkommissionen“ die vielen landlosen Bauern in ihrem Kampf für ein Stück Land. Ein Kampf, der heute wie damals oft genug mit Kugeln beantwortet wird. Die Radikalisierung der brasilianischen Kirche machte nicht nur den militärischen und zivilen Präsidenten in der Landeshauptstadt Brasilia Sorgen, sondern brachte auch den polnischen Papst im fernen Rom auf die Palme. 1985 bestrafte der Vatikan den brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff mit einem Jahr Redeverbot, 1986 löste er Bischof Dom Helder Camara, der sich in Recife, im Armenhaus Brasiliens, als „Stimme der Stimmlosen“ schon in den sechziger Jahren einen Namen gemacht hatte, durch einen konservativen Kirchenrechtler ab usw. Im vergangenen März traf es schließlich Kardinal Arns in Sao Paulo. Seine Erzdiözese wurde in fünf Teile aufgesplittert. Der „rote Kardinal“, wie er von den Militärs einst beschimpft wurde, gebietet heute nur noch über die Stadt selbst, während die Vororte und die meisten Favelas, wo die pastorale Basisarbeit am weitesten gediehen ist, vier neuen Bischöfen unterstellt wurden. Auch Santo Amaro, wo der Metallarbeiter Santo Dias erschossen wurde, liegt jetzt wenige Kilometer außerhalb der Erzdiözese von Kardinal Arns. Doch heute sind viele Kollegen des ermordeten Streifführers bistumüberschreitend aus den Vororten zur „Nossa Senhora da Consolacao“ gekommen, um gemeinsam zu beten: „Vater unser, der Armen, der Märtyrer und Gefolterten, dein Name ist jenen heilig, die bei der Verteidigung des Lebens starben... dein Wille geschehe... gib uns unser Brot des Lebens, Brot der Sicherheit... vergib uns, wenn wir aus Angst vor dem Tod geschwiegen haben, vergib und zerstöre die Reiche, in denen Korruption das stärkste Gesetz ist, beschütze uns vor den Todesschwadronen, Vater unser, Revolutionär, Partner der Armen, Gott der Unterdrückten.“

Dann entläßt Kardinal Arns seine Gemeinde mit erzbischöflichem Segen - nicht ohne sie vorher noch aufgefordert zu haben, sich in einem Demonstrationszug zur Kathedrale zu begeben. Etwa 2.000 mögen es sein, die durch die Straßenschluchten des Geschäftsviertels, vorbei an riesigen Wolkenkratzern, zum Amtssitz des Erzbischofs ziehen, unter ihnen auch einige Nonnen, die unterwegs die Internationale anstimmen. Auf dem Platz vor der Kathedrale spricht als erste die Witwe des vor zehn Jahren ermordeten Metallarbeiters Santo Dias, dann Dom Mauro Morelli, damals Weihbischof von Sao Paulo mit Sitz in der Kirche Nossa Senhora da Consolacao. Vor zehn Jahren hatte Morelli die Tore seiner Kirche geöffnet, um den streikenden Metallern Zuflucht zu bieten. Heute ist er Bischof von Caxias, einer Vorstadt von Rio de Janeiro, und beschuldigt den örtlichen Polizeipräsidenten öffentlich, die Todesschwadronen zu decken.