Bulgarien auf dem Weg zur Reform

■ KP-Chef Schiwkow für „bürgerliche Gesellschaft sozialistischen Typs“ und politischen Pluralismus / Opposition formiert sich

Sofia/Wien (dpa/afp/taz) - Todor Schiwkow, der Generalsekretär der bulgarischen Kommunistischen Partei, hat der Diskussion um die Zukunft der „sozialistischen“ Länder eine Wende gegeben. In einer Rede, die die bulgarische Presse am Sonntag abdruckte, proklamierte er den Aufbau einer „bürgerlichen Gesellschaft sozialistischen Typs“.

Was darunter genau zu verstehen ist, bleibt offen. Schiwkow erklärte, ein Umbau der Gesellschaft sei ohne „politischen Pluralismus“ undenkbar. Eine „Vielfalt von formellen und informellen Vereinigungen“ mit verschiedenen Meinungen und Positionen sei notwendig. Ausdrücklich erwähnte er die Bürgerbeteiligung bei der Lösung von Umweltproblemen. Er befürwortete sogar ein Mehrparteiensystem. Der Staat (nicht etwa die Partei) müsse seine Vorrangstellung aufgeben und „ein Instrument zur Verwirklichung der Ziele unserer Gesellschaft“ werden.

Aber der KP-Chef schränkte ein: „Organisationen, Vereinigungen, Meinungen und Aktionen, die der Verfassung widersprechen“ seien „außerhalb der Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft“. In seiner Rede, die der Vorbereitung eines ZK-Plenums am 10.11. dient, zog Schiwkow eine wenig erbauliche Bilanz der bulgarischen Perestroika, die, „ohne politische und sozioökonomische Erschütterungen zu erleiden“, auf „ernsthafte Schwierigkeiten“ gestoßen sei und keinen „wesentlichen Fortschritt“ gemacht habe.

Unterdessen formiert sich auch in Bulgarien die Opposition. Im Süd-Park in einem Sofioter Außenbezirk, den die Behörden zum Forum der oppositionellen Gruppen bestimmt haben, fanden am Samstag Kundgebungen unabhängiger Bewegungen statt. Rund 100 der etwa 300 Mitglieder des Verbandes für die Verteidigung der Menschenrechte in Bulgarien präsentierten ihre Forderungen: ein Mehrparteiensystem statt des KP -Machtmonopols, das sie als „historische Absurdität“ bezeichneten, Religions- und Gewissensfreiheit, Beendigung der Zwangsassimilierung ethnischer Minderheiten und eine Erneuerung im Sinne der in Osteuropa aufgekommenen Reformströmungen. Die Umweltgruppe Ökoglasnost hat ihre Unterschriften-Aktion für eine Petition zu Umweltfragen fortgesetzt. Ökoglasnost hat bisher in einer einmaligen Aktion innerhalb von zwei Wochen bereits 8.000 Unterschriften gesammelt.

Gleichzeitig mit den Kundgebungen fand ein folkloristisches Fest statt, bei dem Augenzeugen zufolge eine völlig ungewohnte Hide-Park-ähnliche Atmosphäre herrschte. Die unabhängigen Bewegungen Bulgariens können seit zwei Wochen unter dem Schutz der Umweltkonferenz der KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) ihre Anliegen öffentlich vertreten.

ws