„Das haben wir nicht gelernt“

■ Die bekannteste Autorin der DDR zieht eine bittere Bilanz aus vierzig Jahren Sozialismus in einem deutschen Land

Christa Wolf

Vor vierzehn Tagen, nach einer Lesung in einer mecklenburgischen Kleinstadt, beschwor ein Arzt die Anwesenden, die das Literaturgespräch sehr schnell in einen politischen Diskurs umgewandelt hatten, jeder solle jetzt an seinem Platz wenigstens offen und deutlich seine Meinung sagen, sich nicht einschüchtern lassen und nichts gegen sein Gewissen tun. In die Stille nach seinen Worten sagte leise und traurig eine Frau: Das haben wir nicht gelernt. Zum Weitersprechen ermuntert, erzählte sie von dem politisch -moralischen Werdegang ihrer Generation - der heute knapp Vierzigjährigen - in diesem Land: Wie sie von kleinauf dazu angehalten wurde, sich anzupassen, ja nicht aus der Reihe zu tanzen, besonders in der Schule sorgfältig die Meinung zu sagen, die man von ihr erwartete, um sich ein problemloses Fortkommen zu sichern, das ihren Eltern so wichtig war. Eine Dauerschizophrenie hat sie als Person ausgehöhlt. Nun, sagte diese Frau, könne sie doch nicht auf einmal „offen reden“, ihre „eigene meinung sagen“. Sie wisse ja nicht einmal, was ihre eigene Meinung sei.

Ein erschütternder, wenn auch nicht überraschender Befund. Erschütternd auch deshalb, weil er von den Leitungen der Volksbildung, die ihn zu einem guten Teil zu verantworten haben, seit vielen Jahren geleugnet, mit einem scharfen Öffentlichkeitstabu belegt und unter dröhnenden Erfolgsmeldungen erstickt wird; weil jeder, der dennoch auf grundlegende Deformationen bei Zielen und Methoden der Eziehung junger Menschen an unseren Schulen hinwies, politischer Gegnerschaft verdächtigt wurde und womöglich noch wird. Kritische Bücher, Stücke, Filme zu diesem Thema hatten es schwer. Die Medien schwiegen, schlimmer: Sie überzogen den Kern des Problems - daß unsere Kinder in der Schule zur Unwahrhaftigkeit erzogen und in ihrem Charakter geschädigt werden, daß sie gegängelt, entmündigt und entmutigt werden - mit wort- und bilderreicher Schaumschlägerei, in der Schein-Probleme serviert und im Handumdrehen gelöst wurden. (Ich ziehe meinen Hut vor den Lehrern, die in voller Kentnnis der Lage und oft nahe der Verzweiflung versucht haben, ihren Schüler einen Raum zu schaffen, in dem sie frei denken und sich entwickeln konnten.) Die angeblich für sie geschaffenen Organisationen, welche die Jugendlichen mehr vereinnahmten als ihnen Einübung in selbständiges, demokratisches Handeln zu ermöglichen, ließen sie meistens im Stich. Von den Leidtragenden dieser Misere mußten die beklagenswerten Zustände als unabänderlich angesehen werden. Gerade diese Erfahrungen, mit denen sie fast von allen Erwachsenen allein gelassen wurden, haben nach meiner Überzeugung viele von ihnen weggetrieben. Das Ergebnis konnten wir auf westlichen Bildschirmen besichtigen: Massen junger Leute, die zumeist leicht und freudig aus dem Land rennen. Gut ausgebildete Facharbeiter, Sekretärinnen, Krankenschwestern, Ärzte, Verkäuferinnen, Wissenschaftler, Ingenieure, Kellner, Straßenbahnfahrer. Was wollen sie bloß noch, habe ich Ältere, die selbst keine wirkliche Jugend hatten, fragen hören. Die hatten doch alles.

Alles, außer der Möglichkeit, ihr kritisches Bewußtsein im Streit mit anderen Auffassungen zu schärfen, ihre Intelligenz nicht nur an Bildungsstoffen zu beweisen, sondern sie bei einer für sie bedeutsamen gesellschaftlichen Tätigkeit mit anderen zusammen anzustrengen, Experimente zu machen, auch solche, die dann scheitern, ihre Lust am Widerspruch, ihre Verquertheiten und was immer ihnen die Vitalität dieses Lebensabschnitts einigt, in produktiver Weise auszuleben, sich also kennenzulernen. Den aufrechten Gang zu üben. Bei der Gelegenheit: Was ist aus den Schülern der Carl-von-Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow geworden, die eben das getan haben und dafür - ein Hohn auf den Namen ihrer Schule! - relegiert wurden? Wann können sie, falls sie es wollen, ihren Schulbesuch fortsetzen? Und: Wann werden diejenigen zur Verantwortung gezogen, die befahlen, mit Gewalt gegen junge, gewaltlose Demonstranten und Unbeteiligte vorzugehen, wann werden die Vorgänge auf Polizeirevieren, in Garagen usw. untersucht, öffentlicht gemacht und geahndet, die diesen Befehlen folgten?

So etwas gebe es auch anderswo auf der Welt? Ich weiß, und ich habe es selbst beobachtet. Aber wir leben nicht anderswo, sondern ausgerechnet hier, in jenem Teil Deutschlands, der erst seit vierzig Jahren ein Staat ist, der sich die Bezeichnung „demokratische Republik“ gegeben hat und sich „sozialistisch“ nennt - das alles in bewußter Alternative zu dem anderen deutschen Staat, der gewiß nicht sozialistisch sein will, der aus einer Reihe von Gründen reicher ist als der unsere, und der, wenn keine anderen Werte bei uns den minderen materiellen Wohlstand des einzelnen ausgleichen, eine Dauerverlockung besonders für junge Menschen darstellt. Für mich war es eine Befreiung, als, zuerst wohl in Leipzig, den Sprechchören „Wir wollen raus“ der immer noch anwachsende Chor: „Wir bleiben hier“ entgegenscholl. In jenen Tagen sagte jemand zu mir: Wir müssen die DDR retten.

Was haben wir falsch gemacht? fragte in der Leserversammlung, von der ich anfangs sprach, eine etwa sechzigjährige Frau. Sie sprach davon, wie stark ihr eigenes Leben mit der Entwicklung dieses Staates verwoben ist; wie sie an den Zielen hängt, für die sie sich in ihrer Jugend engagierte. Ich verstand sie gut. Natürlich will sie nicht vierzig Jahre ihres Lebens negieren; natürlich wollen und können wir nicht vierzig Jahre Geschichte löschen. Aber es steht uns eine schwere Arbeit bevor: die Voraussetzungen dieser Geschichte und ihren Ablauf Etappe für Etappe, Dokument für Dokument im Lichte ihrer Ergebnisse und der Forderung des heutigen Tages neu zu untersuchen. Dabei wird eine Menge nur noch von wenigen geglaubter Dogmen fallen, unter anderen das Dogma von den „Siegern der Geschichte“.

Diese Losung - darüber waren wir zweihundert Leute, nun schon am späten Abend, in unserer „Literaturdiskussion“ uns einig - hat dazu beigetragen, das Verstehen zwischen den Generationen in unserem Land zu erschweren. Eine kleine Gruppe von Antifaschisten, die das Land regierte, hat ihr Siegesbewußtsein zu irgendeinem nicht genau zu bestimmenden Zeitpunkt aus pragmatischen Gründen auf die ganze Bevölkerung übertragen. Die „Sieger der Geschichte“ hörten auf, sich mit ihrer wirklichen Vergangenheit, der der Mitläufer, der Verführten, der Gläubigen in der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Ihren Kindern erzählten sie meistens wenig oder nichts von ihrer eigenen Kindheit und Jugend. Ihr untergründig schlechtes Gewissen machte sie ungeeignet, sich den stalinistischen Strukturen und Denkweisen zu widersetzen, die lange Zeit als Prüfstein für „Parteilichkeit“ und „Linientreue“ galten und bis heute nicht radikal und öffentlich aufgegeben wurden. Die Kinder dieser Eltern, nun schon ganz und gar „Kinder der DDR“, selbstunsicher, entmündigt, häufig in ihrer Würde verletzt, wenig geübt, sich in Konflikten zu behaupten, gegen unerträgliche Zumutungen Widerstand zu leisten, konnten wiederum ihren Kindern nicht genug Rückhalt geben, ihnen nicht das Kreuz stärken, ihnen, außer dem Drang nach guten Zensuren, keine Werte vermitteln, an denen sie sich hätten orientieren können. - Dies ist auch ein Schema, ich weiß, von dem es so viele Abweichungen wie Familien gibt. Aber ich unternehme, voller Zorn und Trauer, hier auch nur eine erste Annäherung an das Thema „Jugend“, und ich weiß, sie selbst, die Jugend, wird dieses Thema aufgreifen und sich über sich selber aussprechen. Vielleicht wird man ihr nun endlich zuhören und sich eingestehen, daß Fackelzüge und gymnastische Massendressuren ein geistiges Vakuum anzeigen und vergrößern, nicht aber geeignet sind, jene Bindungen zu erzeugen, die nur in tätiger Mitverantwortung für die Gesellschaft wachsen können.

Der Nachholbedarf auf vielen Gebieten ist enorm, aber mir scheint, in diesen Wochen lernen wir schneller, und zwar nicht zuletzt von den jungen Leuten: von ihrem Ernst, ihrer Standhaftigkeit, ihrem Humor, ihrem Enfallsreichtum, ihrer Phantasie, ihrer Bereitschaft, sich einzusetzen. (Hoffentlich werden viele Beispiele von literarischem Volksvermögen gesammelt, die sich jetzt in Verlautbarungen, Sprechchören, Flugblättern ungehemmt zeigen.) Mich beindruckt die politische Reife in den Gesprächen und Diskussionen, die ich erlebte oder von denen ich gehört habe. Ein Wunder? Ich glaube nicht! Man hat aus vielen Quellen gelernt, nicht zuletzt aus den Nachrichten über Reformprozesse in unseren Nachbarländern. Auch von guten Lehrern, natürlich, vor allem aber, glaube ich, voneinander. Überall zeigt sich ein großes, bisher ungenutztes Reservoir an Erfahrung und Handlungsbereitschaft. Sagte man früher ich spreche wieder von meiner Begegnung mit Lesern -, in Mecklenburg komme alles hundert Jahre später an, so muß ich dem widersprechen: keine Spur! Wir sprachen an jenem Abend, jener jungen Frau zugewandt, die ich am Anfang erwähnte, auch von einer Metapher, die Tschechow einmal gebraucht hat: er müsse „den Sklaven tropfenweise aus sich herauspressen“. In diesen Wochen pressen viele von uns, scheint mir, „den Sklaven“ literweise aus sich heraus. Aber darüber sollten wir uns nicht täuschen. Die Spuren von Entmündigung in vielen Menschen werden nachhaltiger weiterwirken als, zum Beispiel, ökonomische Verzerrungen. Bisher hat vor allem die Kunst, oft dafür angegriffen, solche Erscheinungen bemerkt und beschrieben. Wie schön, wenn jetzt Journalisten, Soziologen, Historiker, Psychologen, Gesellschaftswissenschaftler, Philosophen ebenfalls öffentlich ihre Pflicht tun werden.

Dankend entnommen der „Wochenpost“, Berlin (DDR), Nummer 43/1989