Bärendienst für die Gewerkschaft

■ Die Zukunft von FDGB-Boß und Politbüromitglied Harry Tisch wurde vertagt

Harry wußte, was er tat, als er Ende letzter Woche nach massiven Angriffen der Gewerkschaftsbasis die Vertrauensfrage ankündigte: Er ging in die Offensive. Tisch wußte, durch ein reuevolles Schuldgeständnis hätte noch etwas gerettet werden können. Doch der Bundesvorstand der größten Massenorganisation der DDR sah es anders. Die Abstimmung über Tischs Verbleib als Vorsitzender vertagte er auf den 17.November, also nach der ZK-Sitzung der SED nächste Woche. Dies war ein Fehler in doppelter Hinsicht. Mit jedem Tag wird der Druck aus den Grundorganisationen wachsen und sich gegen die Gewerkschaft kehren. Will der FDGB nicht noch mehr an Vertrauen einbüßen und vor allem Mißtrauen wecken, wird er nach der nächsten Sitzung mehr gediente Kader verabschieden müssen, als es jetzt notwendig gewesen wäre. Das wußte Harry und bat deshalb auf der Bundesvorstandssitzung erneut darum, die Entscheidung nicht hinauszuschieben. Und er wußte auch, daß es in der Öffentlichkeit kein gutes Bild machen wird, die Entscheidungen des ZK abzuwarten, um danach die Politik der Gewerkschaften auszurichten. Worauf es jetzt ankommt, ist Unabhängigkeit und Entschlußkraft zu demonstrieren.

Bisher hörte man von den Werktätigen nur wenig. Sie waren nicht die ersten, die auf die Straße gingen, und noch gehören sie wohl nur ins zweite Glied. Aber es tut sich etwas an der Basis. Die Gründung einer Reformgewerkschaft war nur ein erster Funke. In den letzten Wochen war vielerorts zu hören, bei einem gemeinschaftlichen Vorgehen mit Aussicht auf Erfolg wären viele Arbeiter bereit, den Hammer fallenzulassen. Die Forderungen nach einem unabhängigen Gewerkschaftsverband werden sich verstärken, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Reformdiskussion in der DDR-Wirtschaft. Ansätze dazu sind schon vorhanden. Und die Stimmung ist schlecht unter den Werktätigen. Das weiß die Partei. Mit der Kontrolle der Produktion über den verlängerten Arm der Gewerkschaften war es einfach, den Führungsanspruch der Partei aufrechtzuerhalten. Sollte es hier zu einer Sedimentierung kommen, wird die SED verdammt ins Trudeln geraten.

Mit der Entscheidung, über Harrys Verbleib an der Gewerkschaftsspitze noch zu warten, hat sich der Bundesvorstand daher einen Bärendienst erwiesen und der Opposition, die sich auch in den Betrieben zu formieren beginnt, zu einem leichten Punktsieg verholfen. Viel klüger wäre es gewesen, hätte Tisch sich in die Phalanx der reformwilligen Kräfte einreihen können und ein neues Konzept präsentiert. Es wäre nicht die erste Metamorphose eines Spitzenfunktionärs gewesen.

Klaus-Helge Donath