Als ob die Mauer nur noch Geschichte sei

Schon in diesem Jahr rechnet West-Berlins Regierender Bürgermeister Momper mit 100.000 DDR-Touristen / Mit gemischten Gefühlen wartet die Stadt auf ihre neue Rolle in der Mitte Europas / Verhandlungen über vier neue Grenzübergänge im Stadtgebiet  ■  Von Brigitte Fehrle

Berlin (taz) - In West-Berlin rechnet man noch in diesem Jahr mit 100.000 Touristen aus der DDR. Seit Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper mit der Überzeugung, die DDR werde bis Weihnachten die neuen Reisegesetze verabschieden, von seinem Blitz-Besuch aus Ost-Berlin zurückgekehrt ist, betrachtet man die Mauer als symbolisches Relikt. In der Senatskanzlei ist fieberhafte Hektik ausgebrochen. Noch am Montag wurde eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit der Vision von tausenden DDR-Touristen im weihnachtlichen West-Berlin befassen soll. Die noch nicht offiziellen Überlegungen reichen von der Sperrung des Kurfürstendamms für den Autoverkehr bis zu Notplänen für die öffentlichen Verkehrsmittel.

Die wichtigste Frage, die es zu klären gilt, lautet: Wie kommen die DDR-Touristen zu Geld? Das sogenannte Begrüßungsgeld, 100 D-Mark pro Jahr, soll künftig nicht mehr im Westen, sondern von der Staatsbank der DDR ausgezahlt werden. Man sei hier mit dem Ansturm überfordert. Einen entsprechenden Vorschlag hat der Senat bereits in Bonn unterbreitet.

Doch nicht nur von Ost nach West wird zukünftig mehr gereist werden. Beim Berliner Senat rechnet man auch damit, daß es weitere Reiseerleichterungen für die Westberliner geben wird. Noch in dieser Woche wird über vier neue Grenzübergänge verhandelt. Die berühmte U-Bahnlinie 1, die seit dem Mauerbau in Kreuzberg am Schlesischen Tor endet, soll zum Ost-Bahnhof Warschauer Brücke fahren. Im Süden wird über die Verlängerung der S-Bahn Wannsee bis Potsdam verhandelt, und der ehemals belebteste Platz Europas, der Potsdamer Platz, der jetzt als Brache daliegt, soll ein Tor zum Osten werden.

Die rasante Entwicklung im Osten hat in den letzten Tagen im Westen der Stadt einige Verwirrung ausgelöst. Geheim sollte der zweitägige Besuch des Regierenden Bürgermeisters Momper in Ost-Berlin sein. Kein westlicher Journalist war informiert worden. Im Osten scheint man sich an derlei Diplomatie nicht mehr halten zu wollen. Am Samstag meldete die Ost-Agentur 'adn‘ den überraschten West-Medien die Reisetätigkeit ihres Bürgermeisters. Offenbar war das Interesse drüben an Glasnost-Publicity groß. Die 'Berliner Zeitung‘ meldete das Treffen zwischen Momper, dem Ostberliner Bürgermeister Krack und Politbüromitglied Schabowski auf Seite 1. Vor dem Ostberliner Roten Rathaus wurde Momper von den Bürgern beklatscht.

Der Regierende, ein Hoffnungsträger auch im Osten? Für die DDR-Führung ist er ein verläßlicher Partner, der in den Jahren der Grabesruhe die Kontakte fortführte. Die Oppositionsbewegung hat er zwar wahrgenommen, vielleicht im Hinterkopf gewürdigt, aber nie offiziell beachtet. Noch im Sommer, bei seinem ersten Besuch als Regierender Bürgermeister, schlug er eine Einladung der Oppositionsbewegung aus. „Zeitmangel“, war damals die Begründung. Daß er sich jetzt, wo die Mitbegründerin des Neuen Forums Bärbel Bohley täglich die Nachrichten der West -Medien füllt, lobend über ihren Mut und ihre Besonnenheit äußert, zeigt seine Flexibilität in Protokollfragen. Für Ost -Berlin ist Momper aber auch wegen seiner weitgehenden Anerkennung des Staates DDR interessant. Zuletzt hat Momper, weitgehender als andere SPD-Politiker, von zwei Staaten gesprochen. Allen Wiedervereinigungsrufen tritt er scharf entgegen. Und Momper hat dem neuen ersten Mann im Osten ohne jede Skepsis gratuliert. Ein Treffen der beiden ist schon für Dezember oder Januar geplant.

Momper reagiert auf die Entwicklung im Osten schnell und pragmatisch. Seine These, Berlin sei „Scharnier“ zwischen Ost und West, wird er schon bald revidieren müssen. Berlin wird die Mitte Europas, mit allen Schattenseiten. Die 15.000 Polen, die derzeit Wochenende für Wochenende nach West -Berlin pilgern und ihre Habseligkeiten für harte Mark loszuwerden versuchen, sind nur der Vorbote einer Entwicklung. Auch die DDR-Bürger werden versuchen, über die 100 Mark jährlich hinaus, die ihnen geschenkt werden, an Devisen zu kommen. Das Armutsgefälle in Europa wird sich als erstes in Berlin spiegeln. Das Scharnier droht, aus den Angeln gehoben zu werden. Siehe Querspalte Seite 8