„Ich bin doch auch ein Mensch“

Fünf Jahre muß der 29jährige Andreas Sch. hinter Gitter, weil er im Märkischen Viertel in Berlin auf offener Straße den Türken Ufuk Sahin erstach / Das Gericht glaubt nicht an Ausländerfeindlichkeit als Auslöser für die Tat, obwohl der Prozeß das Gegenteil ergab  ■  Von Plutonia Plarre

Berlin (taz) - „Ausländerfeindlichkeit war nicht ausschlaggebend für die Tat.“ Zu dieser Überzeugung gelangte am Montag abend die 29. Strafkammer des Berliner Landgerichts, als sie nach zweitägiger Beweisaufnahme in dem Prozeß um den gewaltsamen Tod an dem 24jährigen Türken Ufuk Sahin das Urteil fällte: fünf Jahre Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge für den 29jährigen Rampenarbeiter Andreas Sch., der Ufuk Sahin am 12. Mai 1989 in der Betontrabantenstadt Märkisches Viertel mit einem Messer erstochen hatte.

Wie berichtet, war der tragische Vorfall seinerzeit von vielen Berlinern als überdeutlicher Beweis für zunehmende Ausländerfeindlichkeit in der Stadt gewertet worden. Daß dies die richtige Schlußfolgerung war, hat sich in der zweitägigen Beweisaufnahme in dem Prozeß gegen Andreas Sch. bestätigt, obwohl das Gericht zu einem gegenteiligen Urteil kam. Der Nebenklagevertreter der Angehörigen des Getöteten, Wolfgang Wieland, brachte es auf den Punkt, als er in seinem Schlußplädoyer sagte: „Ohne die massive Tendenz zur Ausländerfeindlichkeit würde Ufuk Sahin noch leben.“ Der Beleg dafür ist die Aussage von Andreas Sch. bei seiner Festnahme unmittelbar nach der Tat: „Ich lasse doch meine Verlobte nicht von zwei Ausländern belästigen, da habe ich einfach zugestochen.“

Zu der Tat war es gekommen, als Andreas Sch. und seine Verlobte Sabine L. am Abend des 12. Mai zufällig den beiden Türken Ufuk Sahin und Murat P. begegneten. Im Prozeß beriefen sich der Angeklagte und seine Verlobte darauf, von den Türken mit Sprüchen wie „Deutschland gehört uns sowieso bald“ angemacht und verfolgt worden sein. Als Ufuk Sahin versucht habe, Sabine L. anzupacken, sei Anderas Sch. dazwischen gegangenen. Zu der tödlichen Verletzung des Türken sei es nur deshalb gekommen, weil Andreas Sch. mit dem Messer in der Hand gestolpert sei.

Demgegenüber erklärte der Zeuge Murat P., er und Sahin seien von den beiden Deutschen mit Parolen wie „nachdem die Ausländer in so großen Mengen hier sind, haben wir keine Sicherheit mehr“ angemacht worden. Daraufhin sei Ufuk Sahin den beiden ganz friedlich mit den Händen auf dem Rücken und den Worten entgegen getreten: „Ich bin doch auch ein Mensch.“ In diesem Moment habe Andreas Sch. zugestochen.

Nach der Tat waren auf Flugblättern Vermutungen geäußert worden, daß Andeas Sch. ein Rechtsradikaler sei, der im Wald Wehrsportübungen macht. Diese Gerüchte bestätigten sich während des Prozesses nicht. Andreas Sch. ist weder ein Neonazi noch in irgendeiner anderen rechtsradikalen Gruppe organisiert, sondern eher ein Einzelgänger, der oft mit dem Fahrrad in den Wald fuhr, um Tiere zu beobachten. Der 17jährige Bruder des Getöteten, Bülant Sahin, beschrieb den in demselben Wohnblock im Märkischen Viertel lebenden Angeklagten vor Gericht als „komischen Typen“, der „für nicht normal“ gehalten wurde. Ein psychiatrischer Sachverständiger führte in seinem Gutachten aus, daß Andreas Sch. zusammen mit acht Geschwistern in großer finanzieller und sozialer Not aufgewachsen sei, zeitweise im Heim lebte, die Sonderschule nach der achten Klasse ohne Schulabschluß verließ und sich mit Gelegenheitsjobs herumschlug, bis er 1988 erstmals die feste Anstellung als Rampenarbeiter fand.

Daß der Angeklagte kein „Neonazityp“, sondern in Wirklichkeit ein kleines „Würstchen“ ist, war für Nebenklagevertreter Wieland das „eigentlich Bedrohliche an dem Vorfall“: Menschen wie der Angeklagte seien deshalb besonders anfällig für Ausländerfeindlichkeit, weil sie am Rande der „Deklassierung stehen“ und nach dem Motto handelten: „Es muß noch eine Gruppe geben, die in der Hackordnung weiter unten steht.“ Wieland war sich sicher, daß die Tat „nicht zufällig“ zu einem Zeitpunkt geschehen sei, als die „Republikaner“ gerade mit dem Wahlslogan „Spiel mir das Lied vom Tod“ ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen waren. Seinen Antrag auf eine „angemessene Bestrafung“ hatte der Nebenklagevertreter damit begründet, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, „daß die Tötung eines türkischen Staatsbürgers hier in der Stadt zum Discountpreis möglich ist“. Die Strafe dürfe aber auch nicht so ausfallen, daß der Angeklagte „kein Licht mehr am Ende des Tunnels sehe“. Andreas Sch. hatte am vergangenen Samstag in der U -Haft versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Nachdem er am Montag aus dem Haftkrankenhaus vorgeführt worden war, folgte er der Verhandlung völlig in sich zusammengesunken. In seinem Schlußwort - „geben Sie mir 20 Jahre“ - hatte er angedeutet, daß er sich das Leben nehmen wollte, weil er den Angehörigen Sahins seinen Anblick nicht mehr zumuten wolle.

Das Gericht ging in der Urteilsbegründung davon aus, daß das auslösende Moment für die Tat in der Persönlichkeit des Angeklagten zu sehen sei. Aufgrund seiner Ängste, Minderwertigkeitsgefühle und alkoholischen Beeinflussung bei der Tat müsse ihm eine verminderte Schuldfähigkeit zugestanden werden. Der Staatsanwalt hatte sechs Jahre Haft gefordert.