Minister zerfleddern EG-Sozialcharta

■ Beratungen über die Europäische Sozialcharta immer noch in der Sackgasse / Auch Norbert Blüms Neun-Punkte-Katalog ändert daran nichts / Das EG-Dokument ist und bleibt unausgegoren / Die Chefs werden sich auf dem Straßburger Gipfel weiterstreiten

Berlin (taz) - Arbeitsminister Blüm hatte am Montag bei dem Treffen mit seinen EG-Amtskollegen in Brüssel einen Neun -Punkte-Katalog aus dem Aktenkoffer gezogen, auf den sich Gewerkschaften und Unternehmer im Vorfeld des Ministertreffens während einer Tagung im Bundeskanzleramt geeinigt hatten. Die gemeinsamen Vorschläge sollen nach Meinung Blüms in die bei den EG-Ministern bislang umstrittene Europäische Sozialcharta einfließen. Die Charta soll Anfang Dezember auf dem EG-Gipfel abgesegnet werden.

Fast schon auf dem Weg nach Essen, wo Blüm einen Vortrag zum Thema „Vierzig Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland“ halten sollte, präsentierte er der Presse in Brüssel eilig die Forderungen der bundesdeutschen Delegation. Sie betreffen den Jahresurlaub, Lohnfortzahlungen an Feiertagen und bei Krankheit, Schutz von Kindern und Jugendlichen, Mutterschutz, Eingliederung Behinderter, Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz, Berufsberatung und Arbeitsvermittlung sowie Leiharbeit und die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen.

„Wir wollten lieber einige wenige Punkte regeln, die aber substantiell“, hieß es gegenüber der taz am Dienstag im Arbeitsministerium zu Blüms Neun-Punkte-Plan. „Was wir jedoch nicht wollen, ist die Festschreibung sozialer Rechte, die irgendwann auch in anderen Mitgliedsländern der Gemeinschaft von der Bundesrepublik eingefordert werden könnten.“ Fritz Rath im Büro des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) in Brüssel ist mit dem Entwurf keineswegs zufrieden. Er meint, die EG-Sozialcharta sei von den Ministern „arg zerfleddert“ worden. Wichtige Forderungen der Gewerkschaften seien im Text nicht mehr enthalten oder sehr vage und unausgegoren. „Im übrigen wird der Streit auch nach dem Gipfeltreffen in Staßburg weitergehen, wenn die Kommission konkrete Vorschläge für die Umsetzung der Sozialcharta vorlegt“, prognostiziert Rath.

In welcher Form das Dokument im Dezember auf dem EG-Gipfel von den zwölf Staats- und Regierungschefs unterzeichnet wird, steht eh noch in den Sternen. Zwar deutet sich an, daß Maggie Thatcher von ihrer grundsätzlichen Kritik an der Sozialcharta allmählich abgeht. Aber auch im Detail gibt es so viele Knackpunkte für die „Eiserne Lady“, daß überhaupt nicht abzuschätzen ist, ob Maggie überhaupt ihre Unterschrift unter das Dokument setzen wird. Ohnehin ist die Sozialcharta nicht mehr als eine Willenserklärung der Zwölf, neben den wirtschaftlichen Dimensionen des europäischen Binnenmarktes auch soziale Fragen im Blick zu behalten. Aber Rechtsansprüche für ArbeitnehmerInnen erwachsen aus der feierlichen Erklärung nicht.

An der Ernsthaftigkeit Blüms bei der Umsetzung der Sozialcharta sind inzwischen Zweifel aufgekommen. Hatte das Arbeitsministerium den Gewerkschaften bislang signalisiert, sich im Ministerrat für einen großen Spielraum für Mehrheitsentscheidungen bei der Festlegung von Arbeitnehmerrechten stark zu machen, so zeichnet sich jetzt ab, daß wohl nur gänzlich unumstrittene Bereiche von den Ministern mehrheitlich beschlossen werden.

bu