„Wir müssen nehmen, was es gibt!“

■ Die Versorgungslücke in der UdSSR hat sich im dritten Jahr der Perestroika katastrophal vergrößert

Konsumgütermangel ist den Sowjetbürgern zum ständigen Begleiter geworden - staatlichen Erfolgsmeldungen zum Trotz. Während die Versorgung der „Nomenklatura“ durch „direkte Kanäle“ erfolgt, reagieren Normalverdienende auf die Knappheit mit Hamstern und Horten - und Schwarzmarktspekulanten machen den großen Reibach.

Die Milchverkäuferin Tamara ist schwer bedrückt: sechs Stunden hat sie im Kaufhaus „Kinderwelt“ Schlange gestanden, um der 15jährigen Katjuscha einen schicken Übergangsmantel zu kaufen. Als sie endlich an die Reihe kam, stellte sie fest, daß ihr ein Trickdieb die für den Mantel bestimmten 180 Rubel aus der Tasche gezogen hatte - einen ganzen Monatslohn. Vor Aufregung vergaß sie dann auch noch, die Zuckertalons für den Monat September einzulösen. Sechs Kilo Zucker für eine alleinerziehende Mutter mit zwei gefräßigen Teenagern sind jetzt verfallen. Gerade Zucker aber braucht Tamara dringend, weil es kaum Obstkonserven gibt und die letzte Einkochfrist bevorsteht.

„Es gibt nichts!“ Mit Gelassenheit kommentieren die Moskauer die obligatorische Antwort. In den siebziger Jahren hieß der Satz: „Bei uns gibt es alles.“ Damals bezog sich diese selbstbewußte Feststellung auf das Sortiment der klassischen russischen Küche nach dem natürlichen Verlauf der Jahreszeiten. Die Erinnerung an die Hungerjahre während der Kollektivierung der Landwirtschaft war nur zu lebendig. „Wenn sich unsere Wirtschaft weiter so entwickelt wie in den letzten beiden Jahren“, meinte der populäre Ökonom Gavriil Popow kürzlich während eines Meetings, „dann werden wir an die heutige Zeit noch einmal mit der gleichen Sehnsucht zurückdenken, mit der wir uns jetzt an die 70er Jahre erinnern.“

„Damals“, schwelgt meine Bekannte Alla, „konnte ich einfach in einen der großen 'Gastronome‘ am Arbat (Moskaus Fußgängerzone) gehen und alle Lebensmittel, die ich für drei Tage brauchte, zusammenpacken.“ „Heute müssen Sie nehmen, was es gibt“, erklärt eine Bürgerin, die vor einer Bäckerei nach Instant-Kaffee Schlange steht. Schon nach etwa 20 Minuten ist man dran. Bei Waschpulver dauert das viermal so lange.

Auf die Frage, wo man Watruschki, Quarkkuchen, kaufen könne, meint die Filialleiterin des Selbstbedienungsladens in Allas Nachbarschaft verträumt: „Ja, damals hatten wir auch so ein Sortiment in unserer Bäckerei-Abteilung. Darüber hinaus hatten wir auch noch vier bis fünf verschiedene Käsesorten. Wo das alles geblieben ist, ich weiß es auch nicht.“ Sie leidet mit. „Tatsächlich werden wir in diesem Monat noch schlechter beliefert als je zuvor“, bedauert sie, „aber auch die Bedürfnisse der Kunden entwickeln sich. In letzter Zeit sind sie wie verrückt nach Makkaroni und Reis. Warum? Wahrscheinlich wieder mal irgendein Gerücht!“

Die Neigung zum Horten von Lebensmitteln, philosophiert sie, sei eine der bedauerlichsten menschlichen Grundeigenschaften. Lebensmittelmarken hielt sie immer für ein großes Übel. Seit sie aber sehe, wie harmonisch sich die Zuckerverteilung mit Talons gestalte, beginne sie umzudenken: „Zwei Kilo pro Kopf und Monat sind bei dem Körperbau der meisten Kunden wirklich genug.“ Wie sie es dennoch geschafft habe, dem Makkaroni- und Reismangel zu begegnen? Da blinzelt die Filialleiterin energisch: „Wenn sich so etwas anbahnt, dann geben wir sofort Weisung an unser Zwischenhandelslager, damit man dort für uns einen langfristigen Vorrat anlegt!“

Im Gemüseladen gleich nebenan hat die Geschäftsleitung Zitronen und Bananen an Land gezogen. Dafür stößt die Frage nach Zwiebeln auf solches Unverständnis, als handele es sich um Avokados. Auf den Kolchosmärkten wird Gemüse für das zehn - bis 20fache des staatlichen Preises gehandelt. Auf dem Möbel- und Einrichtungssektor ist der Mangel bereits total. Solche Waren, ebenso wie solide Winterstiefel, werden in den Betrieben unter der Hand verteilt. Während einer Odyssee durch acht Teppichgeschäfte und Spezialabteilungen großer Warenhäuser trifft die Korrespondentin auf die bescheidene Auswahl von zwei schmutzigbraunen Teppichen. Im letzten Laden gibt es Seife, „soviel Sie wollen“.

Wer sich angesichts dieser Situation trösten will, kann heute in Moskau an jeder Ecke armenischen Kognak bekommen ohne anstehen zu müssen.

Auch in der Sowjetunion gibt es schließlich Überfluß: wunderbare Waren, von denen die Bürger der Bundesrepublik nur träumen können. So bietet die Apotheke an der Ecke Wärmflaschen jeder vorstellbaren Form und Größe: große kreisrunde für den Kopf, kleine kreisrunde für das Auge, sichelförmige für den Nacken und solche, die man besser nicht beschreibt. Im Schaufenster prangt der Satz: „Vor den modernen Medikamenten treten früher unheilbare Krankheiten den Rückzug an.“ Draußen schleift ein alter Mann mit einem Äffchen Scheren und Messer. Fortgeworfen wird in dieser Gesellschaft nichts.

Barbara Kerneck, Moskau