Defizit als Dauererscheinung der Sowjetwirtschaft

Warenmangel, das „Defizit“, ist eine Dauererscheinung der sowjetischen Wirtschaft. Neu ist aber, daß sich das Defizit bei Konsumgütern ab Frühjahr 1988, also im dritten Jahr der Perestroika, katastrophal vergrößert haben soll. Dabei berichten doch die amtlichen Statistiken über langsam, aber immerhin ansteigende Produktionszahlen auf fast allen Gebieten. Sind die Statistiken falsch, oder unterliegen die Konsumenten einer Täuschung?

Aufgrund der Daten der sowjetischen amtlichen Statistik sowie von Schätzungen für 1989 und der Planung für 1990 ergibt sich dazu folgendes Bild: Der private Konsum in laufenden Preisen, d.h. der Umsatz des staatlichen Handels (einschließlich Gaststätten und Verkaufsgenossenschaften), der Kolchosmärkte, der neugegründeten Produktions- und Dienstleistungsgenossenschaften sowie die Inanspruchnahme von entgeltlichen Dienstleistungen, wird 1989 gegenüber 1985 von 378 Milliarden Rubel auf 477 Milliarden Rubel zugenommen haben, also um rund 99 Milliarden Rubel oder 26 Prozent innerhalb der vier Jahre 1986 bis 1989. In diesen Zahlen sind die Geldausgaben der Bevölkerung für Waren und Dienstleistungen des Schwarzmarkts (Schattenwirtschaft) nicht enthalten. Grob geschätzt kann davon ausgegangen werden, daß das sowjetische Sozialprodukt dadurch zehn Prozent höher als das statistisch erfaßte ist.

Die durchaus beeindruckende Entwicklung der nominalen Konsumausgaben wird durch zwei Faktoren relativiert: Einmal ist das Bevölkerungswachstum von etwa einem Prozent pro Jahr zu berücksichtigen; noch mehr ins Gewicht fällt aber die sich beschleunigende Inflationsrate. Während die Geldausgaben für den nominalen privaten Konsum zwischen 1986 und 1989 insgesamt um 26 Prozent und im Jahresdurchschnitt somit um sechs Prozent anstiegen, wuchsen sie pro Kopf der Bevölkerung um fünf Prozent und preisbereinigt pro Kopf um zwei Prozent an.

Eine Nahezu-Stagnation des Lebensstandards kann jedoch für einzelne benachteiligte soziale Schichten, Regionen und Berufsgruppen einen Rückgang der Versorgung einschließen. Dabei muß auch erwähnt werden, daß es in der Sowjetunion ein „Armutsproblem“ gibt: Fast 40 Millionen Menschen leben nach offizieller Statistik unter oder am Rande des Existenzminimums, das durch ein Monatseinkommen von etwa 75 Rubel definiert wird. Es ist durchaus wahrscheinlich, ohne daß dies durch Zahlen exakt belegt werden kann, daß seit 1986 die Differenzierungen der Einkommen, der Konsummöglichkeiten und damit auch des Lebensstandards größer geworden sind. Gründe für die zunehmenden Einkommensunterschiede sind:

-die ungleichmäßige Entwicklung der Arbeitseinkommen durch die stärkere Differenzierung der Lohn- und Gehaltstarife, vor allem jedoch durch die stärkere Verknüpfung der Einkommen mit dem betrieblichen Erfolg, was als Element der Wirtschaftsreform durchaus erwünscht und gerechtfertigt ist;

-die als Reaktion auf das Warendefizit immer stärker werdende „Naturalisierung“ des Konsumgütermarktes: der Zugang zu begehrten Produkten (vor allem zu ausländischen Erzeugnissen, zu Produkten der Gemeinschafsunternehmen mit westlichen Partnern, aber auch zu „Defizitprodukten“ wie besseren Schuhen und Kleidung) erfolgt zunehmend durch direkte Verteilung an begünstigte Gruppen wie Teile der Belegschaften von Partnerbetrieben, Angehörige des staatlichen und Parteiapparates, Schwarzmarkthändler. Soweit solche Waren überhaupt in den Handel gelangen, werden sie dort vom Personal verschoben oder „unter dem Ladentisch“ verkauft. Schließlich ist darauf zu verweisen, daß die Versorgung der „Nomenklatura“ nach wie vor durch direkte Kanäle (besondere Einkaufsmöglichkeiten usw.) erfolgt.

Es ist nicht schwer zu verstehen, daß die Bevölkerung auf Knappheitserscheinungen mit Horten derjenigen Waren reagiert, die sich lagern lassen, und damit selbstverständlich die Knappheit weiter verstärkt. Was das Spekulantentum angeht, so gibt es keinerlei Zweifel an der Existenz von Schwarzmärkten für alle Defizitprodukte. Ebenso deutlich ist, daß die Preise dort das Drei- bis Fünffache der staatlich festgesetzten Preise betragen. Für Normalverdiener sind diese Waren unerschwinglich: ein Sack Zucker kostet auf dem Schwarzmarkt 150 Rubel, eine Packung Konfekt 30 Rubel, ein Damenmantel ist für 1.000 Rubel und Winterstiefel sind für 1.200 Rubel zu haben. Die Produkte werden in der Regel aus dem staatlichen Handel „abgezweigt“, wenn sie nicht schon am Fabriktor vorbeigeschmuggelt werden. Richtig dürfte ebenfalls sein, daß ein mehr oder weniger großer Teil der Genossenschaften den Deckmantel für Schwarzmarktgeschäfte abgibt; freilich ist die daraus resultierende Feindschaft großer Teile der Bevölkerung gegenüber dem Genossenschaftsgedanken unberechtigt. Keinesfalls sind alle oder die Mehrzahl der Genossenschaftler den „schwarzen Schafen“ zuzurechnen. Überdies wären die illegalen Geschäfte auch möglich, wenn es keine Genossenschaften gäbe, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hat.

Reformbedingte Störungen

der Konsumgüterversorgung

„Ich sehe vor mir eine normale Kundin, eine ältere Frau, die vor einem Verkaufsregal vor Schreck und Verwunderung aufschreit. Der Preis eines Teekessels aus Aluminium hat ihr einen Schlag versetzt. „Habt ihr euch nicht vertan, Fräulein“, fragt sie zaghaft die Verkäuferin und betrachtet das Etikett mit der Ziffer. „Hier ist nichts falsch, Großmütterchen“, zerstreut die Verkäuferin die Zweifel ihrer Kundin. „Das ist ein pfeifender Teekessel, deswegen kostet er zehn Rubel und darüber. Einfache gibt's nicht, jetzt liefern sie nur noch die Pfeifenden.“ So beginnt der Bericht eines Reporters der Zeitung 'Sowjetskaja Rossija‘, der sich in Saratow (nördlich von Wolgograd) in einem Geschäft für Haushaltswaren umgesehen hat. Solche Teekessel, allerdings ohne den Pfeifmechanismus (für den man nur einige Kopeken berechnen dürfte), gab es noch vor kurzem für drei Rubel, weiß der Reporter zu berichten. Der Herstellerbetrieb, die Saratower Flugzeugwerke (Aluminium!), habe das unvermeidliche „Teekesseldefizit“ dazu benutzt, dem Handel die teureren pfeifenden Teekessel (für die „Vertragspreise“ gelten) aufzudrängen. Der Handel hätte aber darauf bestanden, daß die Produktion der billigen Teekessel nicht eingeschränkt wird.

Aber da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Hersteller lieferte im Verlauf von zwei Jahren 200.000 Stück der billigen Teekessel weniger und dafür 127.000 von der teuren, pfeifenden Sorte. Die Rechnung sah dann so aus: Die billigen Kessel hätten 600.000 Rubel Umsatz erbracht, die teuren, mit einem Durchschnittspreis von zwölf Rubel, erlösten dagegen eineinhalb Millionen Rubel. Davon 900.000 Rubel für das Pfeifen... Und 73.000 Kunden gingen leer aus...

Eine andere Variante der scheinbaren Planerfüllung ist folgende: Eine Fabrik für technisches Glas lieferte im vergangenen Jahr Produkte für neun Millionen Rubel an andere Firmen, die Spiegel usw. herstellen, und verbuchte diese neun Millionen als Produktion von Haushaltswaren. Die anderen Betriebe fertigten daraus Produkte für elf Millionen Rubel, und in der Statsitik wurden dann 20 Millionen Rubel Haushaltswaren gezählt. Im Bezirk Saratow wurde 1988 allein durch solche Doppelzählungen Konsumgüter aller Art für 180 Millionen Rubel „hinzugeschrieben“.

Die Unternehmen sind im Unternehmensgesetz, das seit 1988 in Kraft ist, dazu angehalten, eigenständig und gewinnorientiert zu arbeiten und sich nur noch von unverbindlichen „Kontrollziffern“ leiten zu lassen, soweit sie nicht verbindliche „Staatsaufträge“ ausführen müssen. Von diesen Rechten machen sie zunehmend Gebrauch, mit der Folge, daß ihre Pläne zum Teil erheblich unter den Vorstellungen und Bilanzen der Planer liegen, sie ihr Sortiment nach eigenen Interessen gestalten und die ihnen übertragenen Befugnisse bei der Preisbildung („Vertragspreise“) weidlich ausnutzen. Sie verwenden erheblich mehr Mittel als früher für Löhne und Gehälter. Sie kalkulieren Vertragsstrafen ein und verletzten eher die Vertragsdisziplin, als daß sie sich bemühen, ihre Lieferverpflichtungen einzuhalten.

Wie im gesamten Produktionsbereich macht sich auch bei der Konsumgüterproduktion das Nachlassen des „Plandrucks“ bemerkbar, ohne daß ein Ersatz dafür in Sicht ist, der noch dazu in einem erhöhten „Konkurrenzdruck“ bestehen kann; administrative Mittel gehen ins Leere. Es ist äußerst fraglich, ob die angestrebte Entmonopolisierung der sowjetischen Wirtschaft Aussichten für die baldige Schaffung eines solchen Konkurrenzklimas bietet, da sie zunächst die Zerschlagung der Macht der Branchenverwaltungen, die die eigentlichen Monopolisten sind, bedeuten muß. Die Abschaffung der Wirtschaftsbürokratie wird aber solange nicht möglich sein, als man ihr die Verantwortung für die Planerfüllung, so z.B. im Bereich der Konsumgüterproduktion, überträgt. Die Stärkung des Wettbewerbsprinzips muß mit einer weitreichenden Kompetenzbeschneidung der Wirtschaftsbürokratie verbunden werden, wozu auch die Aufgabe der bisherigen Art der Fünfjahres- und Jahresplanung gehört.

Solange aber - und einstweilen deutet nichts auf einen grundlegenden Wandel der Auffassungen hin - sich die Regierung und damit auch die Bürokratie für die Erfüllung detaillierter Planziele selbst verantwortlich fühlt, bleibt der „Teufelskreis“ erhalten, der darin besteht, daß Konkurrenz und Wettbewerb schwach sind, daher sich die einzelnen Betriebe „egoistisch“ verhalten können, deswegen wiederum nicht auf administrative Mittel verzichtet werden kann, die von einer Bürokratie ausgehen, die keine Konkurrenz und keinen Wettbewerb unter den ihr unterstellten Betrieben benötigt.

Roland Götz-Coenenberg