Neu im Kino:

■ „Sex, Lügen und Video“

„Letzte Woche haben wir über die Häufigkeit von Flugzeugabstürzen geredet, heute sprechen wir über ihre Angst vor Müll“. Ann Mellaneys (Andie Macdowell) Psychiater mag an die negative Sichtweise als Wurzel allen Übels nicht glauben. „Als ich das letzte Mal so richtig glücklich war, bin ich total fett geworden“, entgegnet Ann. Die Beichte geht noch weiter. Ihr Ehemann John (Peter Gallagher) darf sie nicht mehr anfassen, ihr sexuelles Verlangen scheint erloschen. Während sie das sagt, zeigen die Bilder auf der Leinwand John und eine andere Frau beim mittäglichen Geschlechtsverkehr. Kurz, heiß, liebeslos - eben zwischen zwei Terminen.

Andie Macdowell

So beginnt das preisgekrönte Erstlingswerk des 26jährigen Amerikaners Steven Soderbergh mit dem programmatischen Titel Sex, Lügen und Video. Oder nicht ganz, denn noch davor erleben wir die Anreise von Graham, einem jungen Blonden, der nach neun Jahren in seine Studienstadt Baton Rouge im schwülen Louisiana zurückkehrt. Mit seinem alten Kumpel John hat er nichts mehr gemein, er gibt sogar freimütig zu, seit einiger Zeit impotent zu sein. Das kann John nicht gerade von sich behaupten. Er begeht seine Lunchtime-Kopulationen auch im ehelichen Bett. Das Objekt seiner Begierde ist die ausschweifende, laszive Cynthia (Laura San Giacomo), Anns Schwester.

Die Polarisierung der Charaktere ist eindeutig. John und Cynthia treiben es im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Diese sind bestimmt durch spontane Lust, verfügbare Zeit und ein Lügengerüst. Die mümmelig-schöne Ann meint, mit ihren Verdrängungen leben zu können, zumindest mit Hilfe ihres Psychaters. Graham, der Sanfte mit dem ehrlichen Augenaufschlag, verarbeitet seine sexuellen Phantasien technisch. Er besitzt eine große Sammlung Videobänder, auf denen Frauen über ihre Sexualität reden und Wünsche offenbaren. Sie sind die Stimulanzien, die er noch akzeptieren kann. Allein und vor dem Bildschirm. Onanie als höchste Form des männlichen sexuellen Begehrens, als Selbstherapie oder gar bewußtes Zuschütten der Problemwurzeln.

Der junge Soderbergh inszeniert sex, lies and videotapes wie ein alter Hase. Sein Redefilm wirkt nie großmäulig. Seine Kamera (Walt Lloyd) gleitet behutsam durch die Räume, umspielt die vier Hauptpersonen, läßt sie ausreden, nimmt kleine Gesten wahr und schaltet im richtigen Moment ab. Voyeurismus ist nicht das Ansinnen dieses Films. Er führt uns vor Augen, daß unbefriedigte sexuelle Wünsche, Verdrängungs-Mechanismen und das Bescheißen des Nächsten nicht ausschließlich die Kopfgeburten eines Regisseurs sind, sondern eine gesellschaftliche Realität. Jürgen Franck

Filmstudio um 15.30, 18.00, 20.30, Sa./So. 23.00