Ein mobiles Ost-West-Begegnungszentrum

■ Gespräch mit Alexander Dill von der „Philosophischen Praxis“ über den Polenmarkt, Philosophie in der U-Bahn und West-Berlin in fünf Jahren: „Die Straßen werden voll sein“ / „Wir brauchen ein dezentrales Kulturangebot, keine großen Begegnungsstätten“

taz: Sie haben letztes Wochenende einen „philosophischen Dialog“ auf dem Polenmarkt initiiert. Wie kommt man auf die Idee, an einem solchen Ort die Leute zum Philosophieren zu bringen?

Alexander Dill: Weil der philosophische Dialog gerade dorthin gehört, wo sich die verschiedensten Leute in einer gespannten Situation begegnen - der Polenmarkt ist im Moment einer der heißesten Orte in West-Berlin. Daß dieser Ort nur darauf beschränkt ist, Westmark gegen Mangelgüter im Osten auszutauschen, ist eigentlich schade - angesichts der Vielfalt von Kulturen, die dort aufeinandertreffen.

Diese Vielfalt wirft aber eine Menge praktischer Probleme auf. Wie waren denn Ihre Erfahrungen nach dem ersten Versuch letzten Samstag?

Die praktischen Probleme waren ja der Anlaß dorthin zu gehen. Das praktische Problem ist, daß ein Großteil der Leute dort handeln will; ein bald ebenso großer Teil will einfach nur zuschauen, wie die anderen handeln. Letztere waren bei der Aktion natürlich gesprächsbereiter. Sprachbarrieren sind natürlich auch ein großes Problem.

Der Polenmarkt ist öffentlich sehr umstritten und zieht viele Ressentiments und Haß auf sich. Hat das Ihre Entscheidung zu dieser Aktion beeinflußt?

An sich nicht. Die Dominanz des Marktes herrscht ja überall in der Stadt. Auch die Deutschen rennen durch die Fußgängerzonen und haben nur eines im Kopf: das günstigste Sonderangebot. Diese Atmosphäre ist in vielen Bereichen der Stadt leider prägend. Wir möchten dieses Verständnis von Markt ändern. Wenn man so will, im Sinne der griechischen „agora“. Hintergrund in der Philosphiegeschichte ist ja, daß Sokrates auf dem Marktplatz philosophiert hat. Gerade die Situation des Marktes bietet Gelegenheit, Grundfragen zu stellen. Das wiederum ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß die meisten Leute nur zum Handeln herkommen - man befindet sich in einer Spannung und bietet etwas an, was die Leute eigentlich nicht suchen und auch nicht wollen.

Der philosophische Dialog sozusagen als politische Beteiligung der Bürger auf der Straße?

Genau. Der Kantsche Gedanke: „Es ist so bequem, unmündig zu sein...“ - dieser Gedanke ist sehr aktuell für Ost und West.

Planen Sie die Aktion zu wiederholen oder in regelmäßigen Abständen dort stattfinden zu lassen?

So wie beim ersten Mal werden wir sie nicht wiederholen. Wir werden sehr viel mehr auf polnisch übersetzen - auch auf jugoslawisch und türkisch. Dann denke ich, müssen wir uns darauf einstellen, den Polenmarkt als eine Vorstufe für eine Ost-West-Begegnung in Berlin anzusehen. Wir arbeiten an einem solchen Vorschlag, der dahin geht, von einem „illegalen Händlertreff“ zu einer kulturellen Begegnung zu kommen.

Kann man das konkretisieren?

Der Polenmarkt ist ja erst der Anfang. Wir müssen bei den sich öffnenden Grenzen damit rechnen, daß „arme“ Nachbarn nach West-Berlin kommen in der Hoffnung, hier Geld zu verdienen. Man muß sich mit deren Kultur auseinandersetzen und dafür sorgen, daß das auch eine geistig-politische Dimension bekommt. Für uns heißt das konkret: eine Art mobiles Begegnungszentrum zu organisieren - auch mit Übersetzern, wo die Leute über das Handeln hinaus Ansprechpartner haben, wenn sie nach Berlin kommen. Also ein kleines, sehr kleines, mobiles Ost-West-Kulturwägelchen. Das orientiert sich dann natürlich nicht mehr nur am Polenmarkt, sondern an allen, die hierher kommen.

Wie sieht Ihrer Meinung nach West-Berlin in fünf Jahren aus?

Aufgrund der rasanten Entwicklung gerade in der DDR werden in West-Berlin bald sehr, sehr viel mehr Menschen auf den Straßen sein als jetzt. Dazu muß man sagen, daß West-Berlin im Vergleich zu Paris bisher ziemlich leer ist. Wir werden einfach damit konfrontiert sein, daß öffentliche Plätze, Verkehrsmittel, Parks - eben überall dort, wo man sich noch relativ billig oder umsonst aufhalten kann - voll sein werden. Vor diesem Hintergrund muß man mobile Aktionen machen, keine großen Häuser oder Begegnungszentren bauen, sondern dezentrale Kulturarbeit im Sinne des Wortes. Das muß an den Brennpunkten geschehen - zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Moment verhandeln wir gerade mit der BVG, daß unsere Aktion „Philosophie in der U-Bahn“ in größerem Umfang wieder neu aufgenommen wird. Wir haben im letzten Jahr unter anderem das Plakat mit Kants Satz über die Unmündigkeit zwischen den Werbeplakaten in der U-Bahn aufgehängt. Das hat eine enorme Resonanz bei den Fahrgästen gehabt. Verkehrsmittel sind ja ein öffentlicher Ort, wo sich diese Menschen ansammeln werden. Die kommen nicht so einfach ins KaDeWe oder in die Oper oder in die Uni. Die werden auf der Straße sein. Deshalb glaube ich, daß Diskussionsangebote auf der Straße im Mittelpunkt der Aktionen stehen müssen.

Interview: Andrea Böhm