Schöner Winterschlaf?

■ Ein Student der Freien Universität über die Stimmung an der Uni, ein Jahr nach dem Streik und über studentische Überlebensstrategien

Als ich vor ein paar Tagen mit Andreas telefonierte, sagte er: „In Athen hat es geschneit. Ausgerechnet, wenn ich dahin will. Aber lieber Schnee in Athen als Semesteranfang in Berlin.“

Von wegen, fünf Minuten vor zwölf. In dieser Woche schlägt es dreizehn in den Universitäten. Deutsche Studenten sehen nicht nur Gespenster, sie glauben längst an sie. Je näher der erste Tag des neuen Semesters rückt, desto konkreter werden unsere Strategien, wie wir mit heiler Haut davonkommen.

Aus Nicoles Augen blitzt die Streiklust. „Ich mein‘, der Streik hat ja nicht viel gebracht, aber die Parties fand ich nett. Vielleicht treff‘ ich dann den Typen wieder, der sonst nie zur Uni kommt.“ - „Ich bin sowieso für Revolution“, mischt Klaus sich ein und nippt an seinem Bier, „aber die Parties waren blöd. Ich hab‘ da diese Frau aus dem ersten Semester angesprochen, und die hat mich angeschrien, ich sei ein Sexistenschwein.“ Klaus kommt ins zwanzigste Semester, in Politologie, hat wenig für linke Polemik übrig und noch weniger für rechte. - „Ich glaube, du verstehst sie falsch...“, sage ich. Dann erzähle ich die Geschichte vom Schnee in Athen. „Oh Gott, bloß keen Schnee“, stöhnt Klaus. „Wieso?“ fragt Nicole. „Ist doch nett so 'ne Schneeballschlacht.“ - „Ach nee, dann werd‘ ich ja nie fertig. Ich hab‘ mich als Schneeräumer verdingt. Da muß ich immer nachts raus.“ Marc kommt mit dem Vorlesungsverzeichnis in der Hand herein. „Ich hab's“, grinst er uns an. „Was? Das Vorlesungsverzeichnis? War das etwa ausverkauft?“ frage ich mit grausiger Vorahnung. „Nein“, antwortet er ungehalten, „ich habe meinen Stundenplan zusammengestellt. Ich fange immer um acht Uhr morgens an, um zehn gehe ich dann zum Schlafen und Lesen in die Bibliothek und von sechs bis um elf abends mache ich die anderen Kurse. Dann sind sie nicht so voll, kapiert?“ Er sieht uns an, als sei er genial. „Das haut aber nur hin, wenn du um zehn noch 'n Platz in der Bibliothek bekommst“, grinst Klaus. Unser Genie erblaßt.

Langsam fange ich an, mir Sorgen zu machen. Als ich nach Hause komme, sitzt Mike in der Küche und liest Bukowski. „Weißt du, was ich machen werde?“ fragt er zur Begrüßung. „Nee.“ - „Ich glaub‘, der Winter wird kalt. Also, ich glaub‘, ich ziehe zu Susanne, sehe ihr morgens beim Aufstehen zu und dann studiere ich Bukowski. Das wollte ich schon immer mal machen.“ „Schönen Winterschlaf“, wünsche ich ihm. Zwei Stunden später kommt Tanja. „Ich habe mir fest vorgenommen, dieses Semester nicht auszuflippen, wenn mir ein Erstsemester Gemüsesuppe über den nagelneuen Rock schüttet.“ Panik huscht über ihr Gesicht. „Ach, was soll's. Passiert ja doch“, flüstert sie. Manchmal denke ich, sie ist zu sensibel für die Uni. Das erste Essen in der Mensa wird zum bleibenden Ereignis. Das Mittagessen ist Strapaze und steht dem Kampf um einen Sitzplatz im Vorlesungssaal in nichts nach. Die Stimmung ist mies; das Studentenvolk drängelt, schiebt, stöhnt und motzt, das Personal ist genervt. Wer jemals in London war, denkt sofort an die schweißtreibenden Fahrten in der tube, dem anderen fällt das Huhn am Fließband als passender Vergleich ein. Die Hochschulreife für die Universität dieser Tage kann man längst nicht mehr mit dem Abitur erwerben. Starke Nerven sind eher gefragt. Wer am längsten durchhält, ist auch irgendwann am Ende, so oder so, mit oder ohne Abschluß.

Ralf Knüfer