DAS KAUFHAUS ALS EXEMPEL DER MODERNE

■ Eine Arbeit über Berliner Warenhäuser aus dem Jahr 1908

Die Kinderkrankheiten hätten die Warenhäuser nun glücklich überstanden. Immerhin schreibt man das Jahr 1908: Es gibt in der Volkswirtschaft des letzten Dezenniums Erscheinungen, die in selten klarer und deutlicher Weise uns ein Bild geben, nicht nur von speziellen Entwicklungsstadien, sondern von dem ganzen Wesen neuzeitlichen Fortschritts und Verkehrs überhaupt. Hierzu gehören in allererster Linie die Warenhäuser, deren Expansion im Laufe der letzten Jahre jedermann auffallen mußte, bemerkte Leo Colze damals in seinem Aufsatz über „Berliner Warenhäuser“. Dieser ist jetzt als Nachdruck der Erstausgabe im Verlag Fannei & Walz in der besonders schön gemachten Reihe „Berliner Texte“, die lange vergriffene und teils vergessene Literatur vorstellt, wieder zugänglich.

Ein Jahr bevor die Monographie von Leo Colze, der eigentlich Leo Cohn hieß, in der ersten von insgesamt vier Auflagen erschienen ist, war das Kaufhaus des Westens feierlich eröffnet worden. Vier ungekrönte Kaiser beherrschten als Vertreter ganzer Warenhausdynastien nun verschiedene soziale Regierungsbezirke: die Arbeiterschaft bediente die Firma A. Jandorf & Co., für den Mittelstand waren die Geschäftshäuser der Firma Hermann Tietz und die der Firma A.Wertheim zuständig, allerdings ohne deren Haus in der Leipziger Straße, das genau wie das Kaufhaus des Westens vom Warenangebot und sicher auch von den Preisen her fast ausschließlich für reiche Kunden bestimmt war.

Colze schildert das Berliner Warenhaus als vorbildliches Institut, als Triumph modernen Geschäftsgeistes nach eigenen Worten „nach besten Kräften“. Der Autor war einerseits Redakteur einer literarischen Zeitschrift, zeitweilig aber auch Syndicus möglicherweise sogar eines Warenhauses - genau weiß man das nicht, denn über seine Biografie ist nur wenig bekannt - und entsprechend schreibt er auch. Wahrnehmungen eines Flaneurs wechseln ab mit der Schilderung technischer und ökonomischer Details.

Und während nicht nur Colzes Meinung nach die Großwarenhäuser Berlins ein gut Teil mitbestimmend auf die Entwicklung der Spreemetropole zur Weltstadt gewirkt haben kristallisiert sich um seinen Gegenstand herum ein komplexes Bild der sozialen, ökonomischen, verkehrstechnischen, architektonischen, stadtplanerischen, berufsständischen, betriebsorganisatorischen ja selbst reklamegeschichtlichen Neuerungen, wie sie die Großstadt um die Jahrhundertwende hervorgebracht hat.

Unter dem Stichwort „Personalfrage“ im allgemeinen wird nicht nur deren Auswirkungen auf die soziale Lage in der Stadt geschildert - denn schließlich waren um 1908 wohl 20.000 Personen in Warenhäusern beschäftigt -, sondern auch die Position des Angestellten im Betrieb: Der einzelne ist eine Nummer, die an ihren Platz gestellt wird, und dort ihre Arbeit zu verrichten hat, ein kleines Rädchen in dem großen Riesenmechanismus, das, wenn es unbrauchbar wird, durch ein neues ersetzt wird, um den Gang des Ganzen nicht zu hemmen. Der Angestellte selbst, wir sprechen natürlich stets von den in subalternen Stellen sich befindenden männlichen und weiblichen Angestellten, betrachtet diese Situation als die erstrebenswerteste und bequemste. Das Verständnis für den großen Zug, der durch das Ganze weht, wird ihm meistens fehlen, Interesse ist zum großen Teil nur soweit vorhanden, wie Prämien, Strafgelder und Urlaub in Betracht kommen. Entsprechend auch der Abschnitt „Disziplin im Warenhause“ mit der vollständigen Arbeitsordnung des KaDeWe, die Colze wie folgt kommentiert: Mit sentimentaler Rücksichtnahme und weichlicher Nachgiebigkeit kann man nicht Tausende von Angestellten dirigieren.

Ein Kapitel ist einem ganz neuen Berufsstand, den „Herren Einkäufern“ gewidmet, die einen bedeutenden Machtfaktor im Betriebe des modernen Warenhauses bilden, und die in „Offertenräumen“ und „Interimsbureaus“ ihre Geschäfte machen. Technisches zu wesentlichen Neuerungen auf dem Gebiet von Heizung, Kühlung, Beleuchtung sowie Be- und Entwässerung, die durch die Erfordernisse der riesigen Paläste hervorgebracht wurden, steht neben einer kompletten Liste des Warenangebotes der 120 Abteilungen des KaDeWe, und diese wiederum ist begleitet von Ausführungen über Ladendiebe und „beliebte Werkzeuge der Spitzbuben“, als da gewesen wären: Schirm, der weite japanische oder Kimono -Ärmel und der Rock, aber auch die Haare der Frauen.

grr

Leo Colze, „Berliner Warenhäuser“, mit 16 zeitgenössischen Photographien im Duotin. 104 Seiten, Berliner Texte 4, Verlag Fannei & Walz, Berlin, 34 Mark.