Kohl in den Stapfen deutscher Freikorps

Des Kanzlers umstrittenes Besuchsprogramm in Polen wird heute bekanntgegeben / Polnische Zeitungen kritisieren Teilnahme an einer Messe auf dem St.Annaberg / Der historische Schauplatz ist heute Treffpunkt der deutschen Minderheit  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

„Wie werden darauf die Veteranen der Schlesieraufstände reagieren?“ fragt empört die 'Trybuna Ludu‘ zu den Bonner Plänen, der Kanzler solle sich während seines Polenbesuchs kommende Woche auf dem St.Annaberg mit Vertretern der deutschen Minderheit treffen.

„Der St.Annaberg ist durchdrungen vom Blut der Aufständischen im Kampf um diese Gebiete, er ist das Symbol für die Zugehörigkeit Schlesiens zu Polen, eine polnische Kultstätte des Patriotismus.“ Zwar hat die Regierungszeitung 'Rzeczpospolita‘ in ihrer ersten Meldung zu diesem Thema inzwischen dementiert, daß der polnische Unterhändler Pszon dem Kohl-Besuch auf dem St.Annaberg zugestimmt habe, doch die Gemüter besonders der polnischen Parteipresse hat das kaum beruhigt. Zwar haben weder die 'Rzeczpospolita‘, deren Chefredakteur von Premier Mazowiecki vor wenigen Tagen erst durch einen Mann seines Vertrauens ersetzt wurde, noch die 'Gazeta Wyborcza‘ zu dem Thema bisher auch nur eine Zeile gedruckt, doch ist klar, daß Kohls Pläne, den St.Annaberg zu besuchen, vor Ort zumindest Unverständnis ausgelöst haben.

„Der St.Annaberg ist zum Symbol geworden für den Sieg der Aufständischen während des Dritten Schlesischen Aufstandes“, schreibt der Historiker Stefan Popiolek. Nach Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg hatten die Siegermächte beschlossen, die Zukunft Oberschlesiens mit Hilfe einer Volksabstimmung zu entscheiden. Die polnische Seite reagierte darauf mit drei Aufständen, wodurch die Sieger vom polnischen Charakter des Landes überzeugt werden sollten. Da jeder stimmberechtigt war, der im Abstimmungsgebiet geboren war, fuhr die deutsche Eisenbahn Hunderttausende deutscher Emigranten nach Oberschlesien. Doch auch ohne diesen nach polnischer Ansicht hinterlistigen Trick wäre das Ergebnis der Volksabstimmung für Deutschland günstig ausgegangen. Um nach der Abstimmung eine für Polen ungünstige Teilung besonders des Industriegebietes zu verhindern, entfesselten polnische Nationalisten den Dritten Aufstand. Besonders heiß umkämpft war dabei der St.Annaberg, von dessen fast 400 Meter hoher Anhöhe aus man praktisch alle Zufahrtswege zwischen Oppeln und dem Industriegebiet Bytom Kattowitz kontrollieren konnte. Zwar gelang den polnischen Aufständischen die Einnahme des Hügels in einem Überraschungsangriff am 3.Mai 1921, doch schon knapp drei Wochen später mußten sie den Berg nach einem Gegenangriff des deutschen „Schutzbundes“ wieder räumen. Durch alliierten Schiedsspruch blieb der Annaberg dann bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges beim Deutschen Reich. Dem „Schutzbund“ werfen polnische Historiker bis heute Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vor. Wieslaw Koleczko, Kompanieführer jener polnischen Einheiten, die um den St.Annaberg kämpften, in seinen Erinnerungen: „Der Selbstschutz ermordete die Bevölkerung der Umgegend, Männer, Frauen und Kinder. Über 60 Personen wurden zu Tode gefoltert.“

Für die Polen ist der St.Annaberg eines der Symbole für den polnischen Charakter Schlesiens. Mit den Aufständen sei bewiesen worden, was die Bevölkerung jenseits aller Abstimmungstricks und Einschüchterung durch „Selbstschutz“ und alliierte Truppen wirklich gedacht habe. Noch heute bezeichnen polnische Historiker den Berg als wichtigsten Schauplatz der Auseinandersetzungen des Dritten Aufstandes. Kaum war Schlesien nach dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gefallen, beging man mit großen Aufwand den Jahrestag des Aufstandes. Das war 1946, noch bevor die Kommunisten in Polen die Macht übernommen hatten und aus den nationalen Kämpfen von 1919/21 Widerstandsaktionen der Arbeiterklasse gegen die deutsche Kapitalistenherrschaft machen konnten. Doch wie die Frage der polnischen Westgebiete ist auch das Gedenken an die Schlesischen Aufstände eine Frage des nationalen Konsenses über alle Parteigrenzen hinweg. 1961 beging die Volksrepublik feierlich den vierzigsten Jahrestag des Dritten Aufstandes mit der Enthüllung eines riesigen Denkmals für die gefallenen Aufständischen in Lesnica, ganz in der Nähe des St.Annabergs, durch den damaligen Verteidigungsminister Spychalski. Dort, am Annaberg, steht bis heute das „Museum der aufständischen Tat“.

Seit einigen Monaten erst ist der Annaberg auch noch Schauplatz eines ganz anderen Ereignisses, das den deutschen Kanzler gleichwohl besonders interessieren dürfte. Jeden Sonntag nachmittag treffen sich dort ein- bis zweitausend Angehörige der deutschen Minderheit, um in der Kirche jenes Franziskanerklosters, das 1921 so heiß umkämpft wurde, in deutscher Sprache die Messe zu feiern. In der kurzem Zeit ist der Annaberg zu einem Treffpunkt der Aktivisten der Deutschen Freundschaftskreise (DFK) geworden, was die örtlichen Presseleute nicht ohne heftiges Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen haben. In der lokalen Presse ist häufig von „revanchistischen Umtrieben“ die Rede, wenn über die Aktivitäten der DFKs berichtet wird. Hinzu kommt, daß sich die Messe auf dem Annaberg auch bei zahlreichen Besuchern, zum Teil aus dem Vertriebenenmilieu aus Westdeutschland, großer Beliebtheit erfreut. Genüßlich zitierte denn auch die 'Trybuna Ludu‘ aus einer westdeutschen Illustrierten von der „antipolnischen Herrenmenschenmentalität“, die die DFK -Vertreter an den Tag legten.