Bald Schwarzmarktkurs von 1:30?

■ Gewaltige Sparguthaben der DDR-Bürger warten nur darauf, getauscht und für Westreisen eingesetzt zu werden

Die Mauer wird ab Dezember nicht länger das Haupthindernis für Westreisen von DDR-BürgerInnen sein. Entscheidender wird die Frage: Wer soll das bezahlen. Die DDR wird entweder jede Menge Devisen bereitstellen oder lange gehegte Chimären über das Verhältnis von Ost- zu West-Mark aufgeben müssen. Steht am Ende gar die Überführung der bisherigen Binnenwährung „M“ (Ost) in die komplette „Konvertibilität“ an?

So muß es wohl irgendwie gewesen sein, wenn wir der offiziellen DDR-Lesart der letzten Jahrzehnte Glauben schenken können: Die West-Mark verliert als Opfer der Inflation immer mehr ihres Wertes, die Ost-Mark dagegen bleibt stabil. „Bestimmte Kreise“ machen indes „Spekulationsgeschäfte“ in der Weise, daß sie immer größere Beträge wertvoller DDR-Mark für immer wertlosere West-Mark hergeben - zum „Schwindelkurs“, obwohl das obendrein noch verboten ist. Gegen „dieses Treiben“ gingen die „zuständigen Organe der DDR“ selbstverständlich vor, indem sie bei Ostbesuchen von Westdeutschen einen „Mindestumtausch“ zum amtlichen Kurs von 1:1 eingeführt hat, damit sie auch ganz sicher an die invalide West-Mark herankommt. Und überhaupt: „Was die von den westlichen Massenmedien so oft genannten“ Handwerker betrifft, die angeblich (Hervorhebung taz) Reparaturen nur gegen westliche Währung durchführen“, so würden „künftig ihre Vergehen entsprechend unseren Gesetzen geahndet“ (Originalton 'Neues Deutschland‘).

Es ist heute müßig, die an sich berechtigte Frage zu stellen, ob das SED-Parteiblatt hier die Ahndung lediglich angeblicher Vergehen androhte oder ob es solche „Elemente“ von Handwerkern tatsächlich gibt. Schnee von gestern wäre es auch, der Frage nachzugehen, welche „bestimmten Kreise“ sich für solche altruistischen Spekulationen mit garantiertem Mindestverlust hergegeben haben sollen. Der Tonfall in den DDR-Verlautbarungen von heute hat sich geändert. Die abenteuerlichen Argumentationsgebäude, mit denen sie und jene zuständigen Organe die Tatsache zu verschleiern versuchten, daß sich ein ganz anderer Kurs als der amtliche aus Angebot und Nachfrage herausgebildet hat, sind eingestürzt. Inzwischen kann auch sein, was lange nicht sein durfte.

Auf einer Ost-West-Wirtschaftstagung bekannte kürzlich Professor Max Schmidt, einer der hochrangigsten Wirtschaftsforscher der DDR, auf die Frage nach dem wirklichen Kurs der Ost-Mark, er könne dazu nichts Genaues sagen. Noch vor wenigen Monaten wäre mit historisch -materialistischer DDR-Gesetzmäßigkeit der Hinweis auf das offizielle 1:1-Verhältnis zwingend gewesen. Auch aus Prestigegründen hatte die DDR seit der Währungsreform an diesem willkürlich gesetzten Verhältnis für den Reiseverkehr festgehalten.

Nicht nur der Professor stößt da heute an seine Grenzen. Der wahre Kurs ist derzeit tatsächlich unergründlich. Nur eines ist klar: Sobald die DDR für alle ihre Bürger Westreisen erlaubt, wird sich die Frage täglich neu beantworten. Heute liegt der Schwarzmarktkurs etwa bei 1 D -Mark (West) 11 oder 12 Mark (Ost). Der Kurs hat sich auf einem äußerst kleinen Markt gebildet. Einerseits aus der Nachfrage nach West-Mark im Osten: zum Einkauf im Intershop, zur Bezahlung - ganz realer - Handwerkerleistungen (hier läuft in bestimmten Branchen, zumal wenn's eilig ist, nichts mehr ohne Westgeld), für Besuche in Devisenrestaurants, die mehr harte Währung hereinbringen sollen, für Reisezwecke in die „Bruderländer“, bei denen die DDR-Bürger offiziell nur noch Gelder im Gegenwert von zwei, drei guten Abendessen eintauschen dürfen. Die West-Mark ist inzwischen zu einer begehrten Zweitwährung im Lande geworden. Last aber beileibe nicht least gibt es hartnäckige Gerüchte und handfeste Belege, daß DDR-offizielle Stellen sich schon mal gegen druckfrische Ost-Mark kofferweise mit Devisen ausstatten mit Vorzug im vornehmen Zürich. Ebenso Betriebe, die Ersatzteile aus dem Westen brauchen. All dem steht nur die begrenzte Nachfrage nach Ost-Mark gegenüber, etwa von Leuten, die ihre Verwandten im Osten beglücken oder selbst in großem Maßstab billig im Osten einkaufen wollen, und ganz Wagemutige, die an den Transittankstellen billig tanken.

Solche „engen“ Märkte sind besonders anfällig für einseitige Angebots- oder Nachfrageänderungen. Und eine solche steht nun an: Ein gewaltiger Angebotsschub an Ost -Mark ist in Aussicht, der die Schwarzmärkte überschwemmen und mithin den Kurs der West-Mark zur Explosion bringen könnte.

Ganz gleich, bis zu welchem Grad die Finanzorgane in der DDR oder auch in der Bundesrepublik die Brüder und Schwestern für ihre Reisen mit Barem (West) ausstatten: unbegrenzt wird es nicht laufen; geschenkt sowieso nicht, aber auch nicht zum Gleich-zu-Gleich-Kurs, denn der Empfänger von Ost-Mark wäre dabei der Dumme. Die Neu -Touristen sind also darauf angewiesen, sich entweder hüben oder drüben mit zusätzlichem inoffiziellem West-Geld einzudecken, damit überhaupt gereist werden kann. Unter anderem, weil die Einkommen in der DDR stetig gestiegen, das Angebot aber nicht mitgekommen ist, hat sich inzwischen das gewaltige Sparvolumen von rund 142 Milliarden Ost-Mark auf den DDR-Konten angehäuft, von denen nun ein Gutteil darauf wartet, irgendwie den Weg zum Angebot in die westlichen Kaufhäuser, Eisenbahnen und Hotels zu finden.

Tauschverhältnisse von 1:20 oder 1:30 wären keine unrealistische Perspektive, auch wenn das mit den realen Kaufkraftverhältnissen nichts mehr zu tun hätte. Bei den Dingen des täglichen Grundbedarfs ist ja die DDR-Mark bisweilen tatsächlich mehr wert - was freilich nichts über Qualität und das Einkommen der Bevölkerung aussagt. Dem Realismus jener Perspektive kann dies indes keinen Abbruch tun. Der heutige Schwarzmarktkurs zeigt, daß hier eine für manchen Schulbuchökonomen perverse Präferenzstruktur bestimmend ist für Angebot und Nachfrage. Westreisen werden eine Angelegenheit der Begüterten sein, sofern man sich im Westen nicht in Schwarzarbeitskolonnen verdingen oder gleich hierbleiben will.

Für die Beruhigung der zu erwartenden Kursausschläge gäbe es dann nur zwei Alternativen: die totale Grenzkontrolle bis in jede Unterhose und ein Vopo an jeder Ecke oder die Freigabe des Kurses, kombiniert mit der Möglichkeit, mit dem Geld auch Import und Export regeln zu können, mithin die volle „Konvertibilität“ (siehe Interview). Dann hätte der Devisenmarkt ein ungleich größeres Volumen, die Kaufkraft für Waren aus beiden Ländern würde stärker durchschlagen. Letzten Endes stünde die DDR-Notenbank dann auch nicht mehr vor der Notwendigkeit, West-Mark im Kurs 1:1 anbieten zu müssen. Freilich könnte nach wie vor die qualitätsbedingt geringe Nachfrage nach DDR-Gütern dazu führen, daß sich der freigegebene Kurs - ähnlich wie in Polen und Ungarn - in der Nähe des heutigen Schwarzmarktkurses einpendeln könnte. Die meisten Experten rechnen damit, daß die DDR mittelfristig ein noch relativ leicht zu aktivierendes Angebot auf den Markt bringen wird: Tourismus für Westler: Gera statt Gomera, Rostock statt Bangkok.

Davon ist man heute noch weit entfernt, der Ost-West-Handel läuft bargeldlos: Der Importeur (West) zahlt West-Mark an die Bundesbank, während der Exporteur (Ost) sich Ost-Mark bei der Notenbank der DDR abholen kann - vice versa. Über die Grenze geht lediglich Ware, kein Geld.

Ulli Kulke