Verfluche den Krieg

■ Tschingis Aitmatows Roman „Aug in Auge“

Aitmatow berichtet von einem, der seine Haut nicht zu Markte tragen möchte. Der Kirgise Ismail will nicht im Kampf gegen den Faschismus verbluten. Sein Leib und Leben sind ihm mehr wert als ein sinnloser Krieg, den er nicht angezettelt hat. In einer nebligen Herbstnacht verläßt er den Truppentransport, huscht hinter die Böschung und geht seiner eigenen Wege. Der an der Front Geglaubte tritt in den Kreis der Familie, hält zum ersten Mal den Sohn in Armen. Ein Katz -und-Maus-Spiel beginnt. Der Fahnenflüchtige versteckt sich in den Vorbergen. Er verläßt seine Höhle nur in mondlosen Nächten, um, wenn im Dorf alle Lichter verloschen sind, in sein Haus zu schleichen wie ein Dieb. Der Staat hat ihm seinen Platz auf dem Schlachtfeld angewiesen. Er aber wollte nicht im Angesicht des Todes ausharren. Nun geht er als Schatten unter den Lebenden umher, die ihn aus ihren Reihen ausgeschlossen haben.

Der Krieg beherrscht Aitmatows Frühwerk. Der Autor mußte in seiner Kindheit zwei Schicksalsschläge hinnehmen, die er in seinem Werk verarbeitet hat: den Verlust des Vaters und die Ausnahmesituation des Krieges. Sein Vater wurde als Intellektueller und Parteifunktionär ein Opfer des Stalinismus. Die Witwe floh mit den Kindern ins Kirgisendorf, wo sie bei den Verwandten nicht nur Brot fand, sondern auch Rückenstärkung gegen die Anschuldigungen, die gegen ihren Mann erhoben wurden. Der junge Tschingis hat in dieser Zeit die Stärke des Sippenverbandes erfahren, der sich schützend um die Verfolgten stellte. Der Autor selbst begegnet uns in der Gestalt des hungernden kleinen Jungen, der weiß, daß sein Vater nicht aus dem Feld zurückkommen wird, und auf das Versteckspiel der Erwachsenen eingeht, die ihm die bittere Wahrheit ersparen wollen.

Das zweite Trauma im Leben Aitmatows war der Kriegsausbruch, der seiner Kindheit ein vorzeitiges Ende bereitete. Von heute auf morgen mußten Kinder wie Erwachsene denken, fühlen und handeln. Kinder mußten die Psychologie von Erwachsenen annehmen, wie der Regisseur Tarkowski das in seinem Film Iwans Kindheit beschreibt. Aitmatow verließ mit vierzehn Jahren die Schule und übte ein Amt aus, das viel zu schwer für ihn war. Als Sekretär des Dorfsowjets mußte er Gestellungsbefehle und Gefallenenmeldungen verteilen, Männer von ihren Familien wegrufen, die sich nicht versorgen konnten, den Angehörigen die Trauerbotschaft beibringen. Der Autor hat sicher die Beklemmung des Briefträgers selbst empfunden, der es nicht wagt, der Familie, die auf ein Lebenszeichen wartet, mit leeren Händen unter die Augen zu treten.

Wenn die Männer im Feld sind, nehmen die Frauen ihre Plätze ein. Der vaterlose Tschingis ist in einer weiblichen Umgebung groß geworden. Der Krieg hat das Verhältnis der Geschlechter zerrüttet. Frauen sind jung und vital, Männer abwesend, tot oder Krüppel. Während Ismail, der Deserteur, zu einem Schattendasein verurteilt ist, erscheint seine junge Frau Sejde plastisch. Sie sprudelt vor Leben, strömt Energie aus. Die Kirgisin rennt leichtfüßig über Bergwiesen, schleppt unermüdlich Reisigbündel, sammelt Getreide aus Spreu „wie Goldkörner“, um die Familie in Notzeiten zu ernähren. Wir meinen, die Wände der Jurte zurückzuschlagen, die Aitmatow bereits durch einen Lehmbau ersetzt hat Einzug der Zivilisation -, und auf ein Nomadenmädchen zu blicken von Kuszezow, dem russischen Gauguin, gemalt, leise atmend, Wärme ausströmend, ovales Gesicht, Mandelaugen, zartgliedrig. Der Krieg hat ihr eine kurze Spanne des Glücks eingeräumt. Die Tage sind gezählt, an denen sie beim Bau des Hauses und der Zukunft übermütig mit ihrem Mann scherzt, sich ungestüm an ihn preßt. Die Augustnächte sind kurz, in denen sie sich im Bewußtsein ihrer Schönheit neben ihm ausstreckt. Als sie dem Kind die Brust gibt, ist die Illusion bereits zerstört.

Sejde entwickelt sich innerhalb der traditionellen Frauenrolle, die ihr die Nomadenkultur vorschreibt. Als sie ihren Mann ins Feld ziehen läßt, schlägt sie verschämt die Augen nieder und gibt ihm scheu die Hand. Als er durch ein Wunder heimkehrt, läßt sie seiner Mutter den Vortritt, ihn zu begrüßen. Errötend nimmt sie die Erklärung des Verehrers entgegen und rennt davon wie ein junges Mädchen. Doch die schüchterne Frau wächst an den Aufgaben. Zuerst Trost und Lichtblick ihrer gebrechlichen Schwiegermutter wird sie Ernährerin der ganzen Familie, Stütze der kinderreichen Nachbarin. Sie trutzt den Verhören des Sicherheitsdienstes und den Drohungen des männlichen Verwandten. Sie wacht am Sterbebett der Greisin, nach deren Tod sie die Entscheidung in die Hand nimmt. Das Brauchtum der Nomaden verbietet es ihr als Frau, dem Sarg der Schwiegermutter zu folgen, die ungeleitet zu Grabe getragen wird.

Die kirgisische Frau kann die Stärke und Kraft, die sie entwickelt, nicht zum eigenen Wohle nutzen. Voller Selbstverleugnung verrät die ergraute Heldin Mann, Zukunft und eigene Wünsche. Sie opfert ihr Lebensglück auf dem Altar des Vaterlandes. Die hoffnungsvollere Möglichkeit, die in der Erzählung angelegt ist, kommt nicht zum Tragen. Die Vision von einem neuen Leben, jenseits des Berggipfels, in einem entlegenen Gebirgstal fernab aller Zivilisation, bleibt Tagtraum. Die Flucht wird in langen nächtlichen Gesprächen erörtert, Passagen, die in der ersten Ausgabe von 1958 fehlten. Doch bleibt es bei der Utopie, dem Vorschein einer besseren Welt.

Gabriele Junginger

Tschingis Aitmatow: Aug in Auge. Aus dem Russischen von Hartmut Hervoth. Unionsverlag, 112 Seiten, 19,80 DM