Eine sozialistische Utopie am Ende der Arbeitsgesellschaft

■ In seinem neuen Buch entwickelt Andre Gorz eine Utopie gesellschaftlicher Emanzipation / Freiheit jenseits der „ökonomischen Rationalität“ / Ein Modell jenseits der Vorstellungen aus der Gewerkschafts- und Frauenbewegung

„Ihr könnt selbst andere Vorschläge machen und andere Gründe für sie anführen“, wendet sich Andre Gorz gegen Ende seines neuen Buches direkt an seine LeserInnen. „Aber eines könnt Ihr nicht: im Namen des Realismus einer Auseinandersetzung um die zukünftige Gesellschaft aus dem Wege zu gehen.“ Denn wenn an die Stelle der Arbeitsgesellschaft nichts anderes gesetzt werde, dann „nehmen wir deren Zerfall einfach hin und mit ihm alles, was er an Elend, Hoffnungslosigkeit, Unvernunft und Gewalttätigkeit hervorbringt“.

Andre Gorz, der große Theoretiker gesellschaftlicher Emanzipation, lebt zurückgezogen in Frankreich auf dem Land. Kongresse besuchte er selten, in den letzten Jahren gar nicht mehr. Auch an der Konferenzserie der IG Metall zur Zukunft der Gewerkschaften im vergangenen Jahr hat er sich, wiewohl eingeladen, nicht beteiligt. Und dennoch: Sein Einfluß auf die Diskussion um gesellschaftspolitische Zukunftsstrategien innerhalb der Linken ist in den letzten Jahren ständig gewachsen.

Mit seinem neuen, im Berliner Rotbuch-Verlag erschienenen Band Kritik der ökonomischen Vernunft - Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft hat Gorz nun ein Grundlagenwerk vorgelegt, eine theoretisch fundierte Anleitung zum politischen Handeln der Linken, die weit über die kurzlebigen Politkonjunkturen der westeuropäischen Opposition hinausweist auf das, was an gesellschaftlicher Emanzipation heute möglich ist.

„Chancen auch emanzipatorisch nutzen“

„Kritik der politischen Ökonomie“ nannte Marx einst im Untertitel sein Kapital. Nicht umsonst bezieht sich Gorz mit dem Titel seines Buches auf den Klassiker, dem es nicht allein darauf ankam, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern, der sich aber bewußt war, daß nur die genaueste Analyse des Bestehenden die Bedingungen gesellschaftlicher Emanzipation freilegen kann. Gorz steht in dieser Tradition, will das historisch Mögliche, die darin enthaltenen gesellschaftlichen Alternativen aufzeigen: „Die Geschichte kann Chancen einer größeren Freiheit in unsere Reichweite stellen; doch sie kann uns nicht davon dispensieren, diese Chancen auch emanzipatorisch zu nutzen... Das in einem historischen Prozeß enthaltene Befreiungspotential aktualisiert sich nur, wenn es von den Menschen zu ihrer Befreiung ergriffen wird“ (Seite 259).

Wer Gorz gelesen hat, wird das Gefühl nicht los, daß zumindest ein großer Teil der bundesdeutschen Linken das historisch Mögliche nicht nur nicht erkannt hat, sondern daran geradezu desinteressiert ist. Denn während man sich bei den Grünen gerade auf den ökologischen Kapitalismus zubewegt, ohne die soziale Emanzipation der Menschen noch zu thematisieren, sind SPD und Gewerkschaften inzwischen auf einen Kurs des „Qualitativen Wachstums“ eingeschwenkt, der zwar die Ökologie zu integrieren versucht, an der Dominanz dessen aber, was Gorz die „ökonomische Vernunft“ nennt, nichts ändert. Es gebe bei einem ökologischen Umbau nicht weniger, sondern mehr Arbeit, so heißt es mit Blick auf die Massenarbeitslosigkeit und verspricht mit diesem Mehr an Arbeit implizit einen Zuwachs von sich den Menschen aufzwingenden Notwendigkeiten, diesmal im Namen des ökologischen Umbaus. Doch jede Notwendigkeit ist gleichzeitig ein Stück verlorene Autonomie für die Menschen, ein Stück Herrschaft der „ökonomischen Vernunft“ über die von jeglichem Zwang freie selbstbestimmte Lebensäußerung.

Schon Marx hat in der Befreiung von notwendiger Arbeit ein Moment von sozialer Befreiung gesehen, eine Chance dafür, das „Reich der Freiheit“ auf Kosten des „Reichs der Notwendigkeiten“ zu erweitern. Voraussetzung dafür war die vom Kapital unter dem Druck der Konkurrenz immer weiter gesteigerte Produktivität der Arbeit, der Umstand also, daß die zum Leben notwendigen Güter in immer kürzerer Zeit produziert werden können. Gleichzeitig aber ging es Marx um die Befreiung der Arbeit selbst, um die Sprengung der kapitalistischen Eigentumsform, die grundsätzlich die Arbeiter einem Zwangsregime unterwirft. Wenn sich die Produzenten die Produktion angeeignet haben und in freier Übereinkunft ihre Ziele und Formen bestimmen, ist das Ziel erreicht: die Befreiung der Arbeiterklasse.

Enteignung des Kapitals bringt noch keine Befreiung

Gorz schließt sich dieser Utopie nicht an - nicht allein, weil der reale Sozialismus inzwischen vorgeführt hat, daß die Enteignung des Kapitals keineswegs zur Befreiung führen muß, weder in noch von der Arbeit. Die Herstellung von zum Leben notwendigen Gütern, so Gorz, wird immer der Freiwilligkeit der Menschen entzogen bleiben. Und seit das Kapital die Arbeitsteilung über die ganzheitlich -handwerklichen Produktionsformen hinausgetrieben hat, entziehen sich auch Inhalt und Organisation des Produktionsprozesses der individuellen Entscheidung der darin beschäftigten Menschen - auch dann, wenn sie gemeinschaftlich die Entscheidung über Form und Inhalt der Produktion treffen können. Denn sie können ihre Arbeit nur im geplanten Zusammenwirken mit anderen verrichten, sind daher Notwendigkeiten unterworfen, denen sie sich nicht entziehen können, sind also letztlich nicht völlig frei.

Natürlich verwirft Gorz keineswegs den traditionellen Kampf der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung um Mitbestimmung und verbesserte Arbeitsbedingungen, schon gar nicht den um gesellschaftlich nützliche Produktionsinhalte. Aber all dies bleibt ein Kampf um die Ausgestaltung jenes „Reichs der Notwendigkeiten“, innerhalb dessen es keine vollständige Freiheit der Individuen geben kann.

Der Trend zur Dienstbotengesellschaft

Freiheit aber im Sinne von individueller Autonomie gibt es nur jenseits des Produktionsprozesses, und Gorz‘ Buch ist ein flammendes Plädoyer, um diese Freiheit zu kämpfen - und zwar für alle Menschen in gleicher Weise. Dieser letzte Zusatz ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Entscheidende. Denn der naturwüchsige gesellschaftliche Prozeß geht, in Übereinstimmung mit den gesellschaftspolitischen Optionen der Konservativen und von ihnen politisch unterstützt, in eine andere Richtung. Die Massenarbeitslosigkeit, die seit Jahren auch in den hochindustrialisierten Ländern besteht, ist Ergebnis eines Freisetzungsprozesses von Arbeit, allerdings in pervertierter Form.

Gorz sieht gegenwärtig einen Trend zur „modernen Dienstbotengesellschaft“, eine Überlagerung des Klassenkonflikts durch Spaltungen innerhalb der abhängig beschäftigten Bevölkerung: die einen, die hochqualifizierten Produktionsarbeiter oder, wie die Göttinger Soziologen Horst Kern und Michael Schumann sagen, die „modernen Arbeitnehmer“, unterwerfen sich den Gesetzen der „ökonomischen Vernunft“, arbeiten wie die Teufel und lassen sich dafür mit soviel Geld alimentieren, daß sie sich alle möglichen persönlichen Dienstleistungen kaufen können. Diese wiederum werden von jenem tendenziell wachsenden Teil der Bevölkerung erbracht, die an den Rand des Wirtschaftsprozesses oder ganz aus ihm herausgedrängt wurden.

Beide Gruppen brauchen sich gegenseitig: die gutverdienenden Produktionseliten bedürfen der schlecht und ungesichert entlohnten „modernen Dienstboten“, um sich auf diese Weise disponible Zeit für selbstbestimmte Freizeitaktivitäten oder berufliches Hyperengagement zu verschaffen. Die Dienstboten bedürfen der reichen Arbeitnehmer, weil sie im normalen Erwerbsleben ihren Unterhalt nicht mehr sichern können.

Gorz plädiert für eine radikale Strategie der Arbeitszeitverkürzung. Dies ist die emanzipatorische, linke Antwort auf die Tatsache, daß der Gesellschaft „die Arbeit ausgeht“, das heißt, zur Herstellung des gesellschaftlich Notwendigen heute erheblich weniger Zeit aufgewendet werden muß als früher. Dieser Trend ist keineswegs neu. Produktivitätssteigerung ist eine - und wohl immer noch die wichtigste - Waffe im Konkurrenzkampf der Einzelkapitale. Und die Gewerkschaften haben vom damit einhergehenden gesellschaftlichen Zeitgewinn immer wieder einen Anteil für ihre Mitglieder erkämpft: vom Acht-Stunden-Tag an sechs Arbeitstagen 1918 über die 40-Stunden-Woche in den sechziger Jahren bis hin zur derzeit geltenden 37-Stunden-Woche.

Aber während frühere Arbeitszeitverkürzungen eine Antwort auf die pure Existenz- und Zeitnot der Arbeiterbevölkerung waren, eine Einschränkung der unbeschränkten Unterwerfung der Arbeitskraft unter den Produktionsprozeß, die keinerlei Raum für menschenwürdiges Leben ließ, besteht heute erstmals die Chance, den Menschen Zeiträume zu erkämpfen, in denen sie wirklich frei sein können, keinerlei Notwendigkeiten der Erwerbs- oder Hausarbeit unterworfen. Nur in solchen Zeiträumen kann sich die Autonomie der Individuen verwirklichen, können die Menschen Dinge um ihrer selbst willen tun. Der Zweck dieser Tätigkeiten, so Gorz, „liegt in ihnen selbst“, nicht in einem dahinterliegenden Ziel, etwa des Gelderwerbs oder der Bereitstellung von Nahrungsmitteln.

Diese erkämpften beziehungsweise erkämpfbaren Zeiträume können die Individuen allerdings nur nutzen, wenn ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist in angemessener Weise nur durch Erwerbsarbeit möglich. Gorz spricht sich in seinem Buch, in leichter Modifikation zu früheren Veröffentlichungen, die das noch nicht so klar herausgearbeitet haben, gegen die von Konservativen und Teilen der Grünen favorisierte Forderung nach einem Existenzgeld für alle. Denn auch wenn, wie die Grünen das fordern, dieses Existenzgeld hoch genug für einen menschenwürdigen Lebensunterhalt ist, befestigt es die Spaltung der Gesellschaft in eine Arbeitselite auf der einen, alle möglichen mehr oder weniger aus dem Erwerbsleben ausgesonderten Gruppen auf der anderen Seite. Aber gerade die Teilnahme am Erwerbsleben garantiert ein durch eigene Leistung erworbenes Anrecht auf Existenzsicherung, und es erfordert das Heraustreten aus der Privatheit der Individuen in die Gesellschaft. Dies wäre bei einer staatlichen Zuwendung gleich welcher Höhe nicht der Fall. Auch die Gefahr, daß die Arbeitsteilung der Geschlechter sich verfestigen würde, ist offensichtlich.

Gegen ein

Existenzgeld für alle

Gorz plädiert dafür, daß allen Menschen Zugang zum Erwerbssektor erkämpft werden soll, damit alle Menschen weniger arbeiten müssen. Das Schlüsselwort hierzu heißt: Arbeitszeitverkürzung - allerdings eine Arbeitszeitverkürzung, die der individuellen Lebensentscheidung der Menschen möglichst große Spielräume eröffnet. Heute beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit eines Beschäftigten pro Jahr ungefähr 1.600 Stunden. Gorz glaubt, daß in absehbarer Zeit eine Verkürzung auf 1.200 und dann sogar 1.000 Stunden pro Jahr möglich ist, wenn auch nicht ohne Kampf. Dies entspricht ungefähr einer 25-Stunden -Woche. Es soll übrigens eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich sein, denn natürlich muß es eine Nachfrage für die produzierten Güter geben, und es ist für den ökonomischen Prozeß unerheblich, ob sich die Gewerkschaften ihren Anteil am Produktivitätszuwachs in Form höherer Löhne oder in Form von Arbeitszeitverkürzung erkämpfen.

Nur für den Zustand der Gesellschaft ist es ein himmelweiter Unterschied: Arbeitszeitverkürzung eröffnet, wenn sie radikal genug durchgesetzt wird, allen Menschen den Zugang zu eigenständiger Existenzsicherung, während reine Lohnforderungen auf eine vertiefte Spaltung zwischen Erwerbstätigen und Ausgesonderten hinauslaufen.

Im Widerspruch zur Gewerkschaftsbewegung

Mit seiner Forderung nach möglichst großer Flexibilität bei der Verteilung der verbleibenden Jahres- oder gar Lebensarbeitszeit (circa 20.000 Stunden) steht Gorz im Gegensatz zum derzeitigen Diskussionsstand der Gewerkschafts -, aber auch der Frauenbewegung. Erstere befürchtet bei allzu großzügiger Öffnung, daß in der Praxis nicht die Interessen der Beschäftigten, sondern die Interessen des Unternehmens das Terrain besetzen werden und gleichzeitig die Belegschaften „zerfleddern“, das heißt für die Gewerkschaften schwerer erreichbar werden. Die Frauen bestehen auf einer „alltagsnahen“ Arbeitszeitverkürzung, am besten täglich, um ihre Doppelbelastung zwischen Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung besser in den Griff zu kriegen. Was diesen Punkt angeht, hat Gorz einiges offengelassen, wenngleich sein Entwurf einer gesellschaftspolitischen Strategie der Linken den gleichberechtigten Zugang der Frauen zum Erwerbsleben selbstverständlich einschließt.

Letztlich bleibt sein Ziel, das „Reich der Notwendigkeiten“ mit all seinen Imperativen der Effektivität und Zielgerichtetheit, mit den nicht der humanen, sondern der „ökonomischen Rationalität“ gehorchenden Zwängen zurückzudrängen und Räume freien Lebens für alle Menschen zu erkämpfen, wo sie dann ihren selbstbestimmten Zielen folgen können. Auf diese Weise entsteht eine neue Form von Gesellschaftlichkeit, eine Emanzipation der Menschen von der Alleinherrschaft des Notwendigen.

„Die Linke wird sich in Zukunft von der Rechten hauptsächlich durch die emanzipatorischen Ziele unterscheiden, auf die hin sie den technischen Wandel lenken will“, schreibt Gorz und benennt als Ziel die Unterordnung der ökonomischen Tätigkeiten unter gesellschaftliche Zwecke und Werte. Wenn man dies als Sozialismus definiert, „dann war seine Aktualität noch nie so groß wie heute“.

Martin Kempe

Andre Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, Rotbuch Verlag, Berlin 1989, 38 Mark