Ein Zug verschwindet hinter einer Nebelwand

Eine Reportage über Polens berüchtigsten Schmuggelzug von Gdingen nach Berlin  ■ von Klaus Bachmann

Unser Besuch war angekündigt. Ohne behördliche Genehmigung geht so etwas nicht in Polen – Regierung Mazowiecki hin oder her. Bevor wir durch den Hof der kleinen, verlassenen, von außen fast unbeleuchteten Zollstation von Stettin-Gumience gehen, ist per Telex die Grenzpolizei und die oberste Zollbehörde von unserem Kommen verständigt worden. Als wir das Zollgebäude betreten, ist dort gerade Wachablösung. Die erste Schicht macht sich zum Aufbruch bereit, sichtlich erleichtert, denn die zweite Schicht muß den „Przemytnik“ abfertigen, der um 20 Uhr 30 einlaufen wird. „Przemytnik“ ist das polnische Wort für „Schmuggler“ und der Nachtschnellzug „Gdingen-Berlin“ ist nicht von ungefähr zu diesem Spitznamen gekommen. Eine junge Zollbeamtin zählt auf, was ihre Kollegen schon alles in diesem Zug beschlagnahmt haben: Einmal sollten 17.500 polnische Knallfrösche in der DDR verkauft werden, ein andermal beendeten zehn Kilo Kinderlutscher ihre Reise in die Hauptstadt der DDR vorzeitig in Gumience.

Bei sechs Zollbeamten, die in einer Stunde fast ein Dutzend überladener Waggons überprüfen sollen, stehen die Chancen für Schmuggler äußerst günstig. Spektakuläre Ergebnisse, wie sie aus anderen Landesteilen gelegentlich gemeldet werden, haben die Zöllner von Stettin daher auch nicht vorzuweisen. Letztes Jahr wurde ein Pole festgenommen, der versuchte, in seinem Polski Fiat ein halbes Schwein auf den Krempelmarkt zu befördern. 200 Kilogramm Bygos wurde ein anderer los, der auf diese Weise einen Imbiß auf dem Mexikoplatz in Wien betreiben wollte. Kuriosester Fund an der Stettiner Grenze: Als letztes Jahr Zollbeamte eine größere Menge voller Säcke in einem Abteil entdeckten und sich niemand dazu bekannte, machten sie sich daran, das Geheimnis im wahrsten Sinn des Wortes zu lüften. Das Ergebnis war sowohl quantitativ als auch in geruchlicher Hinsicht überwältigend – die Säcke enthielten insgesamt eine Vierteltonne Knoblauch.

„Solche Funde sind die Ausnahme“, meint unsere Gesprächspartnerin beim Zoll, „wir haben im Grunde keine Chance, irgend was zu finden. Der Zug ist viel zu voll.“ Vor einer Woche hat der Stettiner Zoll ein Exempel statuiert, nachdem der Zug vor Überfüllung regelrecht zu bersten drohte. „Wir haben 2.000 Personen rausgeholt, es war wie eine Fronleichnamsprozession.“ Wer mit Waren, deren Ausfuhr verboten ist, erwischt wird, kann aus dem Zug geholt und zurückgeschickt werden. Theoretisch ist das fast jeder. Denn die Ausfuhr von Waren über einem Wert von 22.000 Zloty ist bereits verboten. Bei der derzeitigen Inflationsrate aber entspricht das gerade dem Gegenwert einer Flasche Wodka.

Für die Presse das Zollhäuschen repariert

Das Exempel der vorangegangenen Woche wirft ein grelles Licht auf die Zustände im Zug. Wenn auch der Zug nur aus Zweiter-Klasse-Wagen mit Acht-Personen-Abteilen besteht, bietet er nur 1.000 Personen Platz. 2.000 Personen aber wurden aus dem Zug geholt, und trotzdem war er noch fast voll besetzt, als er weiterfuhr... „Was wollt Ihr denn hier“, knurrt ein älterer Zollbeamter, für den gerade die zweite Schicht beginnt. „Da schaut's her, ich hab' meine Knöpfe an der Jacke schon vorher abgemacht“, er zeigt sein Revers, „kriegt man ja doch bloß abgerissen da drin.“ An diesem Abend hat er Unterstützung bekommen. Auf die Nachricht hin, Pressevertreter wollten die Abfertigung beobachten, wurde nicht nur das baufällige Zollgebäude repariert, auch der Herr Amtsvorsteher ist persönlich erschienen und wird zur Feier des Ereignisses vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben einen Zug in Gala-Uniform abfertigen. An seiner Brust prangt demonstrativ ein halber Quadratmeter Orden. Während unser Herr Vorsteher Tee eingießt, erzählt er, daß jeden Morgen, wenn der „Przemytnik“ Richtung Berlin ausfährt, 40 bis 60 Personen wegen Verdachts auf Schmuggel die Reise zwangsweise beenden müssen. Sonderlich tragisch ist das für die Betroffenen nicht, sie fahren dann zurück zum Stettiner Hauptbahnhof und steigen dort in den nächsten Zug, der eine Stunde später mit dem selben Ziel abfährt. Am Zielbahnhof Berlin kommen solche Züge nicht selten mit herausgedrückten Scheiben, demolierter Inneneinrichtung und verbeulten Türen an.

Lebensmittel gegen Farbfernseher

Doch das Argument, man müsse eben mehr Züge einsetzen, läßt man bei den Polnischen Eisenbahnen nur bedingt gelten. Ein PKP-Sprecher: „Die Erfahrung zeigt, daß wir, wenn wir doppelt soviele Züge und Waggons einsetzen, eben doppelt so viele überfüllte Waggons und Züge haben.“ Tatsächlich steigen die Fahrgastzahlen der internationalen Zugverbindungen von Jahr zu Jahr; schneller noch als die Kapazität der PKP, die schon jetzt massenhaft Wagen der Nachbarländer einsetzen. Solange es so enorme Preisunterschiede zwischen den einzelnen RGW-Ländern und zwischen Polen und westlichen Ländern gibt, solange wird das Phänomen der Schmuggelzüge wohl nicht aussterben. Solange werden Polen in die Sowjetunion fahren und Lebensmittel verkaufen, um mit sowjetischen Farbfernsehern zurückzukommen, in der Tschechoslowakei Mäntel gegen Schuhe tauschen und in Ungarn Schnaps gegen Salami.

Daß die meisten Länder ihre Kontrollen, Ein- und Ausfuhrbestimmungen drastisch verschärft haben, tut dem keinen Abbruch, das erhöhte Risiko für die Händler treibt allenfalls die Preise in die Höhe. Kürzlich zeigte das polnische Fernsehen Bilder von der Abfertigung des Warschau –Budapest-Expresses an der tschechoslowakischen Grenze. Der Zug war so überfüllt, daß man auf den Fernsehbildern deutlich erkennen konnte, wie aus den halboffenen Fenstern und Türen Arme und Beine von Reisenden ins Freie hingen. Zehn Stunden Verspätung hatte der Zug. Grund: Auf die Forderung der tschechoslowakischen Zöllner, zur Abfertigung den Zug zu verlassen, reagierten die polnischen Reisenden mit der Drohung, die Beamten zu lynchen. Es war nicht das erste Mal: In Griechenland und Bulgarien, wo die örtlichen Behörden wiederholt versucht hatten, der Handelstätigkeit der Polen mit Schikanen entgegenzutreten, reagierten empörte Touristen mit Grenzblockaden. Die Methode aber hat sich inzwischen als Bumerang erwiesen. Die CSSR hat inzwischen an den Grenzen zu Polen und Österreich von sich aus Blockaden eingerichtet in Form einer Sonderspur für Wagen mit polnischen Kennzeichen. Während die Polen nun bis zu 16 Stunden in ihren Fiats durchhalten müssen, werden Österreicher und Tschechen vorrangig abgefertigt.

Die rege Handelstätigkeit, die mit der Liberalisierung der polnischen Paßgesetze erst ihre wahre Blüte erlebt hat, ist indessen zum Gegenstand heftiger und kontroverser Debatten in Polen selbst geworden. In der Presse kommen dabei die Handelsreisenden überwiegend negativ weg. Als unmoralisch angesehen wird vor allem die Tatsache, daß viele der Händler ihr Geld mit Waren verdienen, die in Polen selbst knapp sind, wie etwa mit Kinderkleidung oder Lebensmitteln. Doch auch wenn durch den Handel der Gesellschaft kein großer Verlust entsteht, verurteilt Polens öffentliche Meinung die Ausflüge zu Krempelmarkt, Mexikoplatz oder Budapester Ostbahnhof. „Die polnischen Händler ruinieren unser Ansehen im Ausland, sie erniedrigen sich selbst, wenn sie dastehen wie Bettler“, so der Tenor der Kommentare.

„Spekulantentum“ oder „gesundes Gewinnstreben“?

Die Debatte ist nicht frei von Ideologisierung: So veröffentlicht etwa die Wochenzeitung der offiziellen Gewerkschaften OPZZ fast jede Woche eine Reportage, die den „Ost-West-Handel“ in den düstersten Farben darstellt, während einer der wenigen Artikel zur Verteidigung des Phänomens in der neoliberalen 'Gazeta Bankowa' erschien. Was für die OPZZ Spekulation auf Kosten der ehrlich ihr Brot verdienenden Arbeiterklasse ist, erscheint der 'Gazeta Bankowa' als Ausdruck gesunden Gewinnstrebens und unternehmerischer Initiative. „Weshalb soll nur der Staat am Handel verdienen dürfen?“, fragte die 'Gazeta'. Immerhin brächte der Handel enorme Devisensummen in die Binnenwirtschaft.

In der Bevölkerung ist die Debatte weniger ideologisch belastet. Wer selbst nicht handelt, ist zumeist dagegen. Wer es selbst tut, empfindet es kaum als ehrenrührig, mit Schnaps und Kinderkleidern aus polnischen Touristenläden in Berlin die schnelle Mark zu machen. Zumal diejenigen, die sich die Wochenenden in stinkenden, überfüllten Zügen um die Ohren schlagen, zu den eher kleinen Fischen zählen. Jan T. (Name geändert) hat auch einmal als kleiner Schmuggler im „Przemytnik“ angefangen. Inzwischen hat er allerdings ein mittelgroßes, illegales Im- und Exportunternehmen aufgezogen. Mit einem kleinen VW-Lastwagen aus zweiter Hand bringt er gebrauchte Fernseher und Waschmaschinen, Radios, Kassettenrecorder nach Polen, die sein Westberliner Partner vom Sperrmüll oder von Flohmärkten aufgekauft hat. Anschließend werden sie dann repariert, ausgebessert und über einen Einzelhändler in Stettin weiterverkauft. Das Geschäft ist lukrativ genug, daß Jan es sich auch leisten kann, Zoll zu bezahlen. Dadurch, daß er sein Unternehmen illegal betreibt, hat er legalen Konkurrenten zumindest voraus, daß er nicht besteuert wird. Welches Ausmaß der private Großhandel dieser Art inzwischen angenommen hat, zeigt ein Blick auf die Abfertigungsliste des Stettiner Zollamts kurz vor der Erhöhung der Zolltarife am 4. Oktober. Da meldete ein einzelner polnischer Bürger etwa 30.000 Liter Spiritus und 23.100 Literflaschen Wodka zur Einfuhr an, wofür er 53 Millionen Zloty zahlte. Das entspricht etwa 200 Durchschnittslöhnen. Ein anderer Kunde des Stettiner Zolls führte zur selben Zeit 18 Tonnen Kaffee ein, wieder ein anderer 3.400 Kilogramm Zigaretten. In der Debatte um Krempelmarkt, Schwarzhandel und Schmuggel spielen die großen Fische kaum eine Rolle. Nicht nur, weil sie ohne Aufsehen arbeiten, auch, weil Schmuggel und Schwarzhandel in Polen immer mehr ein Massenphänomen zu werden scheint. Doch wer sind die Händler und Schmuggler wirklich? Polens Arme, die keine andere Wahl haben? Gerissene Gauner, die auf Kosten der Armen leben? Polens Reiche, die nicht genug kriegen können?

Auf dem Bahnsteig leben wie auf dem Marktplatz

Der „Przemytnik“ fährt abends in Gdingen ab und kommt morgens gegen fünf Uhr in Stettin an. Zu dieser Zeit ist er besonders an Wochenenden bereits so überfüllt, daß es Passagieren in Stettin oft gar nicht mehr gelingt, zuzusteigen. Theoretisch besteht für den Zug Platzkartenzwang, doch bedürfte es schon einiger Hundertschaften Bereitschaftspolizei, diesem Zwang Nachdruck zu verleihen. Der Bahnsteig in Stettin ist denn auch trotz der frühen Stunde bereits bevölkert wie ein Marktplatz. Einige Reisende aus Stettin haben sich bereits Stunden zuvor zu einem Vorortbahnhof aufgemacht, um dem zu entgehen, was sich nun abspielt, sobald der Zug zum Halten gekommen ist. Wir haben uns zwar im voraus Platzkarten besorgt, doch das hilft uns nichts, weil PKP manchmal bis zu vier Reisenden den gleichen Platz verkauft.

Bald schon beginnt ein nahkampfähnliches Gerangel

Kaum ist der Zug zum Halten gekommen, stürmt alles zu den Waggontüren. Dort beginnt ein nahkampfähnliches Gerangel und Gezerre darum, wer zuerst einsteigen darf und vielleicht ein günstiges Plätzchen in einem leeren Klo oder weniger überfüllten Gang erobern kann. Unser verbrieftes Recht auf einen Sitzplatz erweist sich als vollkommen illusorisch. Der Waggon, für den unsere Platzkarten gelten, ist so voll, daß man nicht einmal die Waggontüren öffnen kann – die Reisenden würden sonst auf den Bahnsteig herauspurzeln. Die Stunde der Wahrheit kommt für viele in Gumience, eine halbe Stunde Fahrzeit südwestlich von Stettin. Der Zollamtsvorsteher, den wir letzten Abend getroffen haben, ist noch munter auf den Beinen und hat seine Galauniform anbehalten. Als er bemerkt, daß wir auf dem Gang stehen, erbietet er sich, uns den ganzen Waggon auf seine Art und Weise zu leeren. Die meisten unserer Mitreisenden hätten ohnehin zuviel Waren dabei, meinte er. Wir lehnen das Angebot dankend ab, denn auch nach einer gewöhnlichen Stichprobenrevision leert sich der Waggon so weit, daß man problemlos einen Sitzplatz findet. Dafür wird es auf dem Bahnsteig eng. Etwa 80 Personen samt Gepäck werden an diesem Morgen an die frische Luft gesetzt. „Ich fahr hier schon seit vier Jahren“, beklagt sich ein Reisender, den der Rauswurf der Zöllner getroffen hat, „aber das ist mir noch nie passiert.“ Er bleibt noch eine Viertelstunde sitzen, in der Hoffnung, der Beamte werde weich. Dann übergibt er zwei Taschen einem Freund im nächsten Abteil, der die Kontrolle heil überstanden hat. Mit dem Taxi wird er zurückfahren nach Stettin und in den nächsten Zug Richtung Berlin steigen. Dort wird sein Freund mit seinen beiden Taschen auf ihn warten. Die Zollbeamten haben von der Transaktion nichts mitbekommen, beim zweiten Versuch müssen sie ihn außerdem durchlassen, da wird er ja nichts dabeihaben.

Nur schade, daß er sich eine Platzkarte gekauft hat. Sie hat 25.000 Zloty gekostet, weil er sie von einem „Blockierer“ kaufen mußte. „Blockierer“, das sind zumeist junge Leute mit kräftigen Ellbogen, die in Gdingen zusteigen und die freien Plätze belegen. Sie haben kein Gepäck, steigen durch die Fenster ein und verteilen sich so, daß eine Person jeweils ein ganzes Abteil belegt. Gegen den Wucherpreis von 25.000 Zloty (zehn Prozent eines Monatslohns) treten sie die Plätze dann an Reisende ab. Kaum sind alle Plätze verkauft, verlassen die „Blockierer“ den Zug auf einer Zwischenstation. Wer so etwas ein- bis zweimal pro Woche macht, hat ohne allzuviel Arbeit ein gesichertes Einkommen.

Reiseproviant, der Guiness buch-rekordverdächtig ist

Draußen auf dem Bahnsteig spielen sich zumindest dem Anschein nach Tragödien ab. Tränen in den Augen, mit bebender Stimme und gefalteten Händen nähert sich eine dicke Mitvierzigerin der Zollbeamtin, die sie aus dem Zug geholt hat: „Bitte, lassen Sie mich doch weiter!“ Die junge Beamtin bleibt hart: „Was soll das denn – wir kennen uns doch schon so lange“, grinst sie zurück, „Sie fahren doch fast jede Woche hier vorbei.“ Die Frau ist mit zwei riesigen Taschen voller Pullover und Lebensmittel unterwegs nach Rumänien. Und auf Lebensmittel reagieren die Zollbeamten in Gumience besonders empfindlich – gibt es doch in Polen selbst zuwenig. Daß Lebensmittel unabhängig von der Menge von den Reisenden immer erst mal als Reiseproviant deklariert werden, wundert die Beamten schon lange nicht mehr. Ein junger Pole, der ebenfalls aus dem Zug geholt wurde, erklärt sich denn auch bereit, zum Beweis, daß es sich tatsächlich um Proviant handle, seine schätzungsweise vier Kilo Aal auf der Stelle aufzuessen, wenn man ihn weiterfahren lasse. Der Zollamtsvorsteher läßt sich auf diesen Guinessbuch –rekordverdächtigen Härtetest für Magen und Darm jedoch nicht ein. Nach nahezu einstündigen Verhandlungen einigen die beiden sich auf einen Kompromiß, der Fischliebhaber soll Ausfuhrzoll zahlen. Dadurch wird die zweifelhafte Delikatesse allerdings um 400 Prozent teurer. Als sich der Fischfreund nicht imstande sieht, die entsprechende Summe von seinen Freunden im Zug zu sammeln, gibt der Zollvorsteher noch weiter nach. Die Ausgangsmenge wird von vier Kilo auf ein Kilo reduziert. Die Aale dürfen nun doch nach Berlin, wo sie, so hat sich die Begründung inzwischen geändert, die Hochzeitstafel eines Verwandten zieren sollen.

Vier junge Leute auf dem Weg nach Rumänien haben allerdings wenig Aussicht auf Milde. Die Gesichter sind den Beamten allzugut bekannt. Ein Blick in ihre Pässe beweist, daß sie die Tour Gdingen-Berlin-Budapest-Bukarest fast jede Woche einmal machen. Was sie mit sich aus dem Zugabteil geschleppt haben, würde genügen, mehrere Gemischtwarenläden einzurichten. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich deshalb auch Waggons mit defekten Lampen. So verließ sich auch jener Händler, der eine ganze Ziegenfamilie versuchte in die DDR zu schmuggeln, darauf, die Zollbeamten würden gar nicht bis zu ihm vordringen. Um den Vorsteher hat sich inzwischen eine ganze Menschentraube mehr oder weniger überzeugend Verzweiflung vortäuschender Ertappter gebildet, die ihn alle dazu überreden wollen, sie doch fahren zu lassen, wenn möglich mit Gepäck. „Wovon sollen wir denn leben? Versuchen Sie mal mit 140.000 pro Monat durchzukommen. Irgendwas muß man doch machen“, jammert eine ältere Frau. „Ich weiß ja“, gibt der Beamte zu, „aber es gehört sich nun mal nicht, Lebensmittel zu schmuggeln, wenn in Polen selbst die Leute nichts zu essen haben. Merkt Ihr denn nicht, wie Ihr Euch erniedrigt? Dem Ansehen Polens schadet Ihr. Was sollen die Deutschen denn von uns denken, wenn Ihr da kommt mit Eurem Zeug, wie die Bettler? Schämen solltet Ihr Euch!“

Handelsketten zwischen Warschau, Lwow, Bukarest und Berlin etablieren sich

Wie voll der Zug trotz der Stettiner Säuberung immer noch ist, wird uns erst so richtig klar, als wir in Berlin –Lichtenberg, im Ostteil der Stadt aussteigen. In Sekundenschnelle ist der Bahnsteig so voll, daß einige Reisende auf die Schienen gedrückt zu werden drohen. Schon in der Unterführung des Bahnhofs beginnt der Handel. Händler, Käufer und Schmuggler aller Herren Länder befingern sich gegenseitig, kaufen, verkaufen und feilschen. Man hört Polnisch mit tschechischem, kroatischem, sächsischem und russischem Akzent, vermischt mit etwas Deutsch mit polnischem Akzent. Jacken, Babykleidung, Ostwährungen, Schnaps und Süßigkeiten wechseln im Handumdrehen die Besitzer. Von überall her zischt es: „Masz cos?“ (“Hast Du was?“) Ein kleiner Mann in Lederjacke zerrt an meinem Anorak: „Wieviel?“ Lichtenberg ist fest in polnischer Hand.

Eine Zeitlang war es Mode, Westmark nach West-Berlin zu schmuggeln, dort in DDR-Mark umzutauschen, um diese anschließend wieder in Polen legal, aber zum Schwarzmarktkurs in Zloty zu tauschen. Nach einem weiteren Umtausch Zloty gegen D-Mark kam auf eine investierte D-Mark –West ein Gewinn von 70 Pfennig. Inzwischen hat sich aber der Kurs zwischen West-Berlin und Stettin angeglichen. Jetzt lohnt sich vor allem der mehrmalige Warentausch. So wird der Gewinn aus Lichtenberg sofort in Babykleidung aus dem riesigen Warenhaus Centrum auf dem Ostberliner Alexanderplatz investiert. Diese trifft dann einige Stunden später auf dem Westberliner Krempelmarkt ein. Solche „Handelsketten“ können auch länger sein, zwischen Warschau, Lwow und Bukarest, Berlin, Budapest und Bukarest wechseln oft ein halbes Dutzend Währungen und Warengattungen die Besitzer.

Zwecks Verrechnung bedienen sich die Händler des Warendollars. Der übertrifft an Wert den Devisendollar, wie er in jeder polnischen Bank getauscht wird, um das Zwei- bis Dreifache. Die DDR-Grenzbehörden haben sich auf den verstärkten Verkehr aus und in Richtung Polen bereits eingestellt. Mehrere Türen an der Übergangsstelle Friedrichstraße sind inzwischen für „Tranzyt PRL“ reserviert. Die Fahrkarte nach Lichtenberg dürfen polnische Reisende in Zloty zahlen, sie kostet umgerechnet gerade 1 Mark 50. Um die U-Bahn-Fahrkarte von immerhin 2,70 D-Mark zu sparen, fahren die meisten schwarz bis zur ersten U –Bahnstation in West-Berlin und gehen von da aus zu Fuß weiter in Richtung Krempelmarkt. Dort stehen sie dann, dicht gedrängt und bieten ihre Waren feil. Nachdem die Preise für Lebensmittel und Alkohol in Polen drastisch gestiegen sind, sind solche Waren vom Krempelmarkt zunehmend verschwunden, große Renner sind jetzt Babykleidung und Fotoapparate russischer und ostdeutscher Herkunft. In Wortschatz, Verhalten und Warenangebot lassen sich drei Gruppen von Händlern unterscheiden. Eine kleine Gruppe von Leuten, die gekommen sind, auf diese Weise ihr Familienbudget aufzubessern und deren Unerfahrenheit zu entnehmen ist, daß solche Ausflüge eher Ausnahmen für sie sind. Eine große Gruppe regelmäßiger, erfahrener Krempelmarkt-Besucher, die zu einem Großteil vom flachen Land kommen. Für sie ist der Handel zum Zweitberuf geworden. Hinzu kommt eine kleine Gruppe von Profis, die schnell viel Geld machen wollen oder schon gemacht haben. Viele der angebotenen Waren weisen darauf hin, daß ihre Verkäufer zuvor eifrig in Bestechungsgelder für Einzelhändler investiert haben, um an die Ware zu kommen. Angesichts von Gewinnspannen zwischen 200 und 500 Prozent eine ökonomisch vertretbare Investition.

„Kinderkotz“, Zigaretten und Prostitution in den Toiletten-Containern

Daß es sich lohnt, läßt sich am Rande des Marktes überprüfen. Der Polski Fiat, das polnische Arme-Leute-Auto ist bei den Wagen mit polnischen Kennzeichen in der Minderheit. Wesentlich häufiger sind Ladas anzutreffen, noch häufiger allerdings große Opel (Rekord, Kadett und Omega) und der Polonez, das teuerste für Zloty erhältliche Auto. Die Kunden sind überwiegend in West-Berlin ansässige Polen, Griechen, Türken, Jugoslawen. Die Verständigung erfolgt entweder mit Gesten oder in einer Sprache, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Deutsch und Polnisch aufweist. Eine Frau mit einer Handvoll Decken über dem Arm preist „Kinderkotz“ an, „besonders billig“. Der zweite Teil des Wortes entstammt dem Polnischen und heißt schlicht Decke über die wenig umsatzfördernde Wirkung dieses Mischmaschs scheint sich die Dame nicht im Klaren zu sein. Zwei Schritte weiter wechselt eine Stange polnischer Zigaretten den Besitzer. In Polen, wo sie wochenlang Mangelware sind, kosten sie 5.000 Zloty pro Stange ( DM 1,20), In Berlin bringt die Stange fünf D-Mark. An einem Familienstand in der Nähe der Toiletten-Container beschäftigt sich ein junger Bursche in Lederjacke intensiv mit einer blonden Polin. „15 Mark“, dringt das Angebot an unser Ohr. Doch zuerst muß der Junge sich mit einem älteren Mann, der in dunklem Mantel und Krawatte dabeisteht und offenbar der Vater der Polin ist, handelseinig werden. Der scheint nichts gegen eine Aufbesserung des Familienbudgets zu haben. Doch mit der Tochter gibt es Schwierigkeiten. Obwohl sich der junge Bursche im Laufe der Verhandlungen bis zu deren mittleren Körperpartien durchgearbeitet hat, bleibt sie letztlich standhaft. Grzegorz, als polnischer Journalist in Berlin ständiger Beobachter des bunten Krempelmarkt-Treibens, behauptet, daß vergleichbare Transaktionen besonders nach Einfall der Dunkelheit in den Containern zu erfolgreichen Abschlüssen geführt würden: „Alles eine Frage des Preises.“

Mit Einbruch der Dunkelheit leert sich der Platz am Reichpietschufer. Nach 20 Uhr verläßt der letzte Zug in Richtung Polen den Westberliner Bahnhof Zoo. Wer die Nacht nicht auf einer Parkbank oder in der Wartehalle verbringen will, tut besser daran, sich beizeiten auf den Weg zu machen. Nicht alle finden den auf Anhieb. Bei der polnischen Militärmission in West-Berlin hat sich kürzlich ein polnischer Arbeiter gemeldet, der eine Woche lang hilflos durch Berlin geirrt war, weil er die Wohnung seines Freundes nicht mehr fand. Er hatte auf Parkbänken übernachtet, war ausgeraubt und verprügelt worden, bis ihn eine Polizeistreife aufgelesen und der Mission übergeben hatte.

Gegen 18 Uhr sieht der Krempelmarkt wie eine Mülldeponie aus. Ein riesiger Menschenstrom bewegt sich in Richtung U –Bahnstation Kochstraße. Obwohl der Zug zurück nach Stettin und Gdingen auf keinem Plan der Reichsbahn erscheint, ist der Bahnsteig bereits eine Stunde vor Abfahrt in Lichtenberg von Hunderten von Polen belagert. Ein massiertes Aufgebot von Bahnpolizei steht bereit, sollte es beim Einsteigen zu Handgreiflichkeiten kommen.

Nicht wenige Passagiere sind bereits angetrunken. Viele, die trotz Verbot immer noch versuchen, auf dem Krempelmarkt Alkohol loszuschlagen, zehren bereits während der langen, nächtlichen Fahrt nach Berlin von ihren Vorräten. Wenn sie dann feststellen, daß sich der Verkauf in Berlin wegen der in Polen gestiegenen Preise nicht mehr lohnt, kippen sie sich ihre Vorräte lieber hinter die Binde, als das Risiko einzugehen, daß ihnen die Flaschen bei der Ausreise vom Zoll weggenommen wird. Da die Handelsreisenden meistens auch noch pausenlos rauchen, verbreitet sich im Zug schnell eine atemberaubendes Geruchsgemisch aus Schnaps, Rauch, Schweiß, vermischt mit den Düften der Aborte, deren Wasserspülung reine Fiktion ist. Selbst die Abgehärtetsten greifen bald zur Flasche, um ihre Sinne zu betäuben. Wenn die Züge dann am Ausgangsbahnhof ankommen, unterscheiden sie sich oft nicht wesentlich von den auch in Polen berüchtigten Fußball –Zügen.

In Ungarn winken schlechte Geschäfte

An diesem Abend fährt der „Przemytnik“ pünktlich ab. Kurz vor dem Start läßt sich ein junges Ehepaar erschöpft in die Polster fallen. Sie waren beide in Budapest, kommen aber mit mehreren großen Taschen und einem gigantischen Rucksack wieder zurück. „Es ist entsetzlich“, schimpft die junge Frau, „wir haben fast überhaupt nichts verkauft.“ Zu allem Unglück droht ihnen jetzt auch noch, daß ihnen der polnische Zoll bei der Rückfahrt auch noch ihre Ware abnimmt, die sie bei der Hinfahrt so geschickt durchgeschmuggelt haben. Jetzt versuchen die beiden so gut es geht, ihre Ware zu verstecken. Ein Teil der Mitreisenden, die auf Grund guter Geschäfte kein Gepäck mehr haben, bekommt auch etwas ab. Eine alte Dame erklärt sich bereit, bei der Einreise nach Polen acht Paar Strampelhosen als persönlichen Reisebedarf zu deklarieren. „Gott sei Dank“, seufzt die junge Frau, als das Licht im Wagen fast schon erwartungsgemäß ausgeht. Sie versucht gerade, einen Seidenschal in einer Puderdose unterzubringen.

In einem Nachbarabteil tauschen einige Krempelmarkt –Besucher ihre Erfahrungen mit der Polizei aus. Trotz polnischer Presseberichte über Sippenhaftmethoden und Ausländerfeindlichkeit bekommt die Berliner Polizei eher gute Noten. „Wenn Du irgendwo stehst und ein Polizeiauto fährt langsam vorbei, dann mußt du dich halt langsam und würdevoll aus dem Staub machen“, weiß einer. „Wenn sie das dritte Mal die Runde drehen und Du stehst immer noch da, bist Du selbst schuld. Aber selbst dann nehmen sie Dir höchstens deine Ware ab, Du zahlst freundlich deine 40 Mark Strafe und der Kuchen ist gegessen. Vor allem stempeln sie dir kein Bärchen in den Paß.“ Ein Bärchen, daß ist ein Wiedereinreiseverbot, daß dem Paßbesitzer für eine Weile den lukrativen Handel unmöglich macht. So lukrativ ist der übrigens gar nicht mehr – zuviele Köche verderben den Brei. An jenem Wochenende waren pro Tag 20.000 Händler auf dem Krempelmarkt, der Absatz für den einzelnen wird da immer geringer. Nicht auszuschließen, daß die Polen in Kürze dem Krempelmarkt selbst den Garaus machen.

Zumal den Profis auch immer mehr Amateure Konkurrenz machen, die es mit Hygiene und Ehrlichkeit nicht allzu genau nehmen. Ein Mitreisender berichtet von einer alten Frau, die auf dem Krempelmarkt selbstgemachten Quark verkaufte. Da die Masse auf dem Zeitungspapier unter Sonneneinstrahlung jedoch ständig an Form verlor, knetete sie sie mit Fingern, die seit der Abfahrt aus Polen mit Sicherheit nicht mehr gewaschen worden waren, von Zeit zu Zeit wieder zusammen. Ein anderer Mitreisender weiß von einem Konkurrenten zu berichten, der „gefälschten Aal“ feilbot: Nur die Haut war echt, drinnen steckte Rhabarber. Ein Mann öffnete die Abteiltür, sein Blick gleitet mißtrauisch prüfend über die Gepäckstücke der Anwesenden. Man hat ihn bestohlen, jetzt sucht er sein Eigentum. An der Grenze in Gumience, wo immer noch unser Vorsteher die Stellung hält, geht es jetzt ruhig zu. Bis auf Fernseher, Videogeräte, Kassettenrekorder und Radios ist ohnehin alles zollfrei. Einige Reisende werden erwischt, die ihre Radios nicht angegeben haben. Es setzt eine Strafpredigt über staatsbürgerliche Pflichten. Zum Ausgleich gibt der fröhlichste Zollbeamte der DDR eine Extravorstellung. In jedem Abteil verkündet er in nahezu völlig grammatikfreiem Polnisch: „Oh, keine Pässe, aber Wodka!“ Entsprechende Angebote lehnt er unter dem Gelächter der Polen dankend ab: „Ich müssen arbeiten!“ Wir fahren nicht bis Stettin und steigen in Gumience nach der Abfertigung aus. Von draußen scheint der Zug wie hinter einer Nebelwand zu verschwinden. Was wir zunächst für Nebelfetzen halten, ist aber nur der Zigarettenrauch, der aus sämtlichen Öffnungen des überfüllten Zugs nach außen dringt. Mit uns steigt nur ein Passagier aus – zwangsweise. In Berlin, so sagt er, habe man ihm alle seine Taschen gestohlen. Doch ein Mann, der auf dieser Strecke völlig ohne Gepäck fährt, ist verdächtig. Jetzt muß er sich dafür rechtfertigen, daß er als einziger nicht schmuggelt.