Die Stadt neu denken

Berlin wird Metropole in der Mitte Europas  ■ K O M M E N T A R

„Ein bißchen freuen sollten wir uns auch“, sagte kürzlich der regierende Bürgermeister Momper, als ihn die Abendschau nach den vielen DDR-Touristen fragte, die noch vor Weihnachten in der Stadt erwartet werden. Der Regierende scheint skeptisch. Doch wenn der viel mißbrauchte Satz von Ernst Reuter, den er während der Blockade Berlins in Not ausgerufen hat, noch mal gesagt werden darf, dann jetzt. Die Welt wird gespannt und neugierig auf die Stadt schauen. Die eingemauerte Halbstadt, die sich teils mit Selbstmitleid, teils mit Trotz Mut zugesprochen hat, hat jetzt die Chance in Zukunft eine überragende Bedeutung auf dem Weg zu einem friedlichen Europa zu bekommen. Sie ist die einzige Stadt, die zukünftig europäische Metropole genannt werden kann. Nicht, weil ein CDU-Senat das Etikett zum Feiern braucht, sondern weil der Wille der Menschen in Osteuropa sie dazu macht. Die Hälften der Stadt werden sich verflechten, ohne daß das Wort Wiedervereinigung ausgesprochen wird. Berlin wird ein Fokus des Ost-Westverhältnisses sein. Was die Veränderungen in den Ostblockländern für den Westen bedeuten, wird sich hier als erstes und exemplarisch zeigen. Berlin wird offene Stadt. Keine deutsche Stadt - Berlin wird eine europäische Stadt sein. Sie wird für alle, die Europa als ihre Heimat begreifen, für alle, die sich aus Richtung Ost mit dem Westen beschäftigen wollen, und für alle aus Westeuropa, die die Berührung mit dem Osten suchen, Anziehungskraft haben. Darüber sollten wir uns nicht nur „ein bißchen“ freuen.

Die rot-grüne Regierung hat hier eine Aufgabe zu bewältigen, die weit über das hinausgeht, was sich die Väter der Koalition Walter Momper und Christian Ströbele jemals hätten träumen lassen. Noch vor wenigen Monaten sagte der Regierende Bürgermeister in seiner Antrittsrede: „Der europäische Binnenmarkt birgt die Chance für Berlin, ein Scharnier für ein größeres Europa zu werden.“ Doch die Stadt ist gar nicht erst Scharnier geworden, sie hat jetzt die großartige historische Chance, Mitte zu sein. Daß dies unter einer AL/SPD Koalition stattfindet, eröffnet der linken Intelligenz in der Stadt jede Möglichkeit für Utopien. Das Schlimmste wäre jetzt, würden sich die Verantwortlichen an kleinkrämerischen Vereinbarungen festhalten, die zu Zeiten entwickelt wurden, als das eingemauerte West-Berlin noch Züge einer Dorfidylle trug.

Die Tatsache, daß die Mauer durchlässig wird, ja wahrscheinlich bald „nur“ noch ein politisch historisches Bauwerk ist, verlangt einen völlig neuen Blick auf die Stadt. Berlin hat dann ein Umland für Freizeit und Vergnügen. Warum also nicht die Kleingärten in der Innenstadt bebauen. Die Stadt braucht Ost-West -Eisenbahnverbindungen. Warum also nicht den Anhalter Bahnhof wieder errichten. Kinder verschiedenster Nationalitäten werden in Berlin groß. Die Stadt braucht europäische Schulen, in denen polnisch und russisch unterrichtet wird. Die alliierten Truppen in West- und Ost -Berlin sind lächerlich geworden. Als Zeichen des Friedens in Europa sollten vor dem Brandenburger Tor ein Amerikaner und ein Russe gemeinsam patroullieren. Dem neuen Denken und den Ideen sind keine Grenzen mehr gesetzt.

Daß der Zustrom so vieler Menschen soziale Not mit sich bringen wird, ist sicher, das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West ist zu eklatant. Noch viel mehr werden in die Stadt kommen, die die Armut ihres Heimatlandes hinter sich lassen wollen. Berlin ist auf dem Weg zur Fünf-Millionen-Stadt. Keine Regierung der Welt kann in der Kürze der Zeit die gesamte soziale Infrastruktur darauf abstellen. Der Polenmarkt ist nur ein klitzekleiner Anfang. Das muß man den Leuten, die jetzt hier leben, und die vielleicht gehofft haben, in den nächsten Jahren eine größere Wohnung zu bekommen oder einen besseren Arbeitsplatz, klar sagen. Freiheit in Europa geht nicht ohne soziale Verschlechtung im Westen. Daß die jetzt schon Armen darunter am meisten zu leiden haben, ist vorhersehbar. Der Ausgleich dafür ist die Utopie einer grenzenlosen Welt, für die die europäische Metropole Berlin ein Symbol werden könnte.

Brigitte Fehrle

(Siehe auch Bericht auf Seite30)