Im Weltkerker

■ Herbert Wernicke inszeniert Janaceks „Totenhaus“ in Mannheim

F.M.Dostojewskij soll 1849 in die Verschwörung des Kommunisten Petraschewskij verwickelt gewesen sein. Der Dichter wurde zum Tode verurteilt, dann aber zur Verbannung nach Sibirien „begnadigt“. Sieben Jahre brachte er im Zuchthaus und im Lager zu. Die literarische Verarbeitung dieser Zeit gehört zu den erschütternsten Texten der Literatur: Kühl bis ans Herz versuchte der Schriftsteller zum eigenen Unglück auf Distanz zu gehen; er objektivierte und schrieb über die Menschen, die im 19.Jahrhundert in die östlichen Lager verfrachtet wurden - immerhin eine Million: „Vielleicht ist gerade dieses Volk der allerbegabteste, allerstärkste Teil unseres ganzen russischen Volkes! Aber nutzlos verkamen die möchtigen Kräfte, gesetzwidrig, unnatürlich, unwiederbringlich.“

Leos Janacek, seit 1876 Musiklehrer und Dirigent in Brünn, kam - mit zwei Jahrzehnten Zeitverzögerung - durch seine Oper Jenufa zu öffentlicher Anerkennung. Anfang der Zwanziger Jahre festigte eine weitere Frauen-Tragödie seinen Ruf als Komponist des neueren Musiktheaters: Katja Kabanova. Seine Tierfabel vom Schlauen Füchslein schließlich gilt als großes Dokument der Naturliebe in der Kunst. Als der Komponist das siebzigste Jahr schon überschritten hatte, in tiefem Frieden, provinzieller Ruhe und einer neuen Liebesbeziehung lebte, griff er zu Dostojewskijs Bericht Aus einem Totenhaus, um daraus das Libretto für seine letzte Oper zu ziehen. „Vielleicht war es eine Vision aus dem Dunkel der Zukunft“, vermutete Milan Kundera. „Das großartige, einzigartige und unerklärliche Totenhaus ist ebenso eine Vorhersage der Welt der Konzentrationslager, wie Der Prozeß und Das Schloß seines großen Landsmannes unsere totalitäre Zukunft vorgeformt haben.“

An diesem Zusammenhang von Janacek und Kafka setzte Herbert Wernickes neue Inszenierung in Mannheim an (die deutsche Erstaufführung der Oper Aus einem Totenhaus fand 1930 am Mannheimer Nationaltheater statt). Ein Bildchen des Autors Franz Kafka schmückt das Programmheft: Der Versicherungsangestellte im Sonntagsstaat und mit Melone. Wenn der Vorhang um 20.08 Uhr hochgeht - 157 Normaluhren zeigen die Zeit -, dann sieht man den nüchternsten aller denkbaren Räume: die Innenansicht einer Schuhschachtel. An den weißen Wänden in absolut gleichen Abständen die runden Uhren wie Gespensteraugen, auf dem dunklen Boden in Reih und Glied 56 graue Koffer. Auf jedem sitzt ein Mann mit Melone und im schwarzen Anzug: 56 Brüder, Vettern und Schwager Kafkas (die Solisten, Choristen, Statisten). Eingeschlossen in eine surreale Umwelt, sind sie zur Langeweile und zur Hackordnung im Zwangskollektiv verurteilt. Nichts bewegt sich wirklich. Wenn die Kafkaiden sich erheben und umhergehen, dann wird's ein Gänsemarsch: der Zug schließt sich zum Kreis, immer an der Wand entlang, ein unendlicher Kreisel.

Vor und nach dem Einblick in das Lager der Gepeinigten und Gedrillten zeigen sich auf den Vorhängen Graffitis von der Berliner Mauer. KZ war Mord - gepinselt über einer unbeholfenen Zeichnung eines Lagers. Daneben ein „Schweine -Bulle“, der Morgenstern und Peitsche schwingt, und über Gefängnistüren mit Monitoren: Hochsicherheitstrakt ist Mord. Unvermittelt setzt Janaceks Musik ein und entfaltet ihre eigentümliche Idiomatik. Aus den Resten der romantischen symphonischen Tradition ragen Elemente slawischer Folklore; dazwischen und im Ganzen die Mittel der musikalischen Moderne, die freilich nie über das historische Material triumphieren. Diese Oper vom toten Haus am Ende der menschlichen Welt ist ein entschiedenes Stück der Moderne: vom Stoff her ebenso wie in der Anlage des Librettos, das auf äußerlich dramatische Handlung verzichtet und Einzelszenen in einem trostlosen Raum präsentiert. Eine Oper ohne Frauenrollen. Da kommt ein Neuer ins Straflager, ein Politischer; einer versucht - völlig sinnloses Unterfangen - zu fliehen; einer dreht durch; der Neue wird gefoltert. Einer erzählt von seiner Tat; die Gefangenen vertreiben sich die Zeit mit Sketchen; wegen eines Streits wird einer fast totgeschlagen. Der Neue benutzt das einzig zugelassene Buch (die Bibel), um Lesen und Schreiben zu lernen; einer stirbt; das Leben geht weiter im Totenhaus.

Nachdem der Regisseur und Ausstatter Herbert Wernicke die Ankunft des Neuen mit Koffern symbolisiert hatte, übersetzte er den Arbeitsdienst in eine Schulsituation: Tische und Stühle in preußischer Ordnung. Das uniforme Mobiliar läßt sich zusammenschieben zum großen Eßtisch, der dann auch als Bühne für das pantomimisch-elegante Theater auf dem Theater dient. Im dritten Akt, der die gestohlene Lebenszeit beklagt, stehen 56 Feldbetten: da dämmern sie dahin; darauf wälzen sie sich schlaflos; darin hoffen und sterben sie.

Der Dirigent Friedemann Layer sorgte für eine deutliche Interpretation, die Kontraste der Partitur mitunter drastisch hervorhebend. Die Solisten waren weitmöglichst in den Verband der Sträflinge, der Statisten und Chorsänger zurückgenommen. Mit äußerster Konsequenz etablierte Wernicke ein gegen alles Individuelle gekehrtes Gesamtbild. Absichtsvoll war eine Ausstattung gewählt worden, die nicht an Konzentrationslager, Gulag oder Hochsicherheitstrakt erinnerte (weil es wohl sonst dem einen oder anderen zu einfach gemacht worden wäre): der Regisseur mag das ins Bild gesetzt haben, was Ernst Bloch als den Weltkerker beschrieb - einen heutigen Weltkerker. Die extreme Unfreiheit kann einen verflucht „normalen“ Anschein haben.

Frieder Reininghaus