Grundübel der DDR: der Stalinismus

■ Christa Wolfs Erklärung zu Walter Janka

Heute abend findet in diesem Theater eine bedeutsame Premiere statt: Zum ersten Mal wird öffentlich und so radikal wie möglich jenes Grundübel zur Sprache kommen, aus dem über die Jahrzehnte hin fast alle anderen Übel des Staates DDR hervorgegangen sind: der Stalinismus. Vor mehr als dreißig Jahren wurde an Walter Janka ein Exempel statuiert, dessen Ziel es war, ihn zu brechen. Seine Unbeugsamkeit, sein Mut, seine Beharrlichkeit haben sein Schicksal zum Beispiel werden lassen. Es ist mehr als ein günstiger Zufall, daß wir seinen Bericht darüber in diesen Wochen, in denen alles davon abhängt, daß wir lernen, von Grund auf umzudenken, als Lehrbeispiel in den Händen haben. Dieses Buch muß - und ich höre, es wird - so bald wie möglich in der DDR erscheinen. Es stellt uns vor einen bisher geleugneten, unterschlagenen, besonders düsteren Aspekt unserer Realität. Es gehört in das öffentliche Gespräch und ist, wie weniges sonst, geeignet, dieses Gespräch zu vertiefen und es von den Symptomen weg zu den Ursachen jener Deformationen zu führen, die jetzt auch ihre Verursacher und Nutznießer beklagen, unter denen auf einmal alle gelitten haben wollen, die aber keiner zu verantworten hat. So äußert sich die Fortdauer der Deformation. Auch Walter Janka wird sich jetzt nicht retten können vor denen, die sich weißwaschen wollen, indem sie ihn benutzen. Er wird den grimmigen Humor entwickeln, auch diese Farce souverän zu überstehen.

Daß er bis heute nicht in aller Form öffentlich rehabilitiert wurde - er und die anderen Opfer von Schauprozessen in den fünfziger Jahren -, ist ein Zeichen des schleichenden Stalinismus, der, zu Zeiten schärfer, zu Zeiten milder, den manifesten Stalinismus abgelöst, aber seine Grundposition nicht aufgegeben hat, die da heißt: der Zweck heiligt die Mittel. Nun haben die unsittlichen Mittel den Zweck zersetzt. Nicht nur die Institutionen sind ausgehöhlt, auch die Werte, die sie verkörpern sollten, zerfielen in der langen Erosionsphase, die hinter uns liegt. Die Krise, die aufgebrochen ist, signalisiert auch einen geistig-moralischen Notstand unserer Gesellschaft, der nicht so schnell zu beseitigen sein wird wie ein Versorgungsnotstand oder ein Reisedefizit. Das Buch von Walter Janka kann uns helfen, ihn zunächst zu erkennen überwinden können wir ihn nur in einem gemeinsamen langwierigen Lernprozeß. Wir müssen unsere eigenen „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ untersuchen und werden finden, daß auch wir Anlaß haben zu Reue und Scham. Wollen wir uns doch nicht täuschen lassen: Ehe die Erneuerung unserer Gesellschaft nicht in die Tiefe von Selbstbefragung und Selbstkritik eines jeden einzelnen vorgedrungen ist, bleibt sie symptombezogen, mißbrauchbar und gefährdet. Daß die Massenbewegungen dieser Tage auf der Vertiefung der Analyse und, daraus folgend, auf der Veränderung von Strukturen bestehen, gibt mir Hoffnung.

28.Oktober 1989Christa Wolf